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Junge europäische Generation ohne Vorurteile: „Wer seine Geschichte nicht kennt, bleibt ewig ein Kind“

18. Mai 2015 | Kategorie: Kreis Südliche Weinstraße

Alle Teilnehmer des Comenius-Projekts vor dem Hambacher Schloss.
Fotos: v. privat

Bad Bergzabern – „Heute noch sind viele Menschen mit Schmerz erfüllt, wenn sie an den Denkmälern auf unserem Marktplatz vorbeilaufen, da viele ihrer Familienangehörigen Opfer der Deportationen während des zweiten Weltkriegs wurden“, sagt der litauische Schüler Žygimantas Marcinkus.

Er ist einer der 25 Gäste aus Litauen, Polen, Norwegen und Frankreich. Gemeinsam mit etwa ebenso vielen deutschen Schülern des Gymnasiums im Alfred-Grosser-Schulzentrum Bad Bergzabern haben sie zwei Jahre lang am Comenius-Projekt „Europäische Erinnerungskulturen“ teilgenommen.

In der Abschlusswoche Mitte April trafen sich alle noch einmal in Bad Bergzabern. „Man kann nichts ändern, jedoch sollten auch die düsteren Zeiten unserer gemeinsamen Geschichte nicht in Vergessenheit geraten, denn wer die Geschichte nicht kennt, bleibt ewig Kind“, ergänzt Emilė Paskočimaitė, ebenfalls aus Vilnius in Litauen. Beide debattierten in der Kreisverwaltung Südliche Weinstraße gemeinsam mit zwei deutschen Schülerinnen die Frage, ob auch politisch überkommene Denkmäler konserviert werden sollen.

Jede Nation hatte sich im Laufe des zweijährigen Projekts mit einem Teil ihrer Geschichte beschäftigt. In Deutschland hatten die Schüler zum Beispiel Ende 2013 Zeitzeugen zu den Umbrüchen 1945 und 1989 interviewt und die Ergebnisse in einem Buch zusammengestellt.

In Frankreich ging es um 1945 und um den Algerienkrieg, in Norwegen um Immigrationsgeschichte und das Attentat von 2011 und in Litauen und Polen um den Umbruch 1989.

Die Schüler setzen sich schreibend, theaterspielend, filmend und künstlerisch damit auseinander, wo in der Geschichte ihres Landes Brüche waren und wie ihre jeweiligen Kulturen sich daran erinnern.

Dass Vorurteile sich nicht bestätigten, zog sich wie ein roter Faden durch das Projekt. Benedikt Gubisch (18) und Patrick Luber (17) erlebten das, als sie im Rahmen des Projekts nach Norwegen reisten. Dort sei von nordischer Reserviertheit überhaupt nichts zu spüren gewesen. „Wir haben dort offene und freundliche Menschen kennengelernt“ erzählten sie.

Sprache war dabei überraschend häufig kein Hindernis: Die siebzehnjährige Marie Jobard aus Dijon zum Beispiel sprach nahezu akzentfreies Deutsch. Sie war ihrerseits überrascht über die hervorragenden Deutschkenntnisse der Schüler aus Litauen und Polen.

Internationales im Klassensaal während der Abschlusswoche des zweijährigen Comenius-Projekts.

Die 17-jährige Irena aus Polen konnte ihre Sprachkenntnisse verbessern. „Mir macht das aktive Sprechen viel mehr Spaß als das trockene Auswendiglernen in der Schule“, sagte sie. Ihre 18-jährige Freundin Kasia aus Polen schreibt für ihre Schülerzeitung einen Artikel über Deutschland.

Eine der beteiligten Lehrerinnen, Marit Berger aus Norwegen, sagte, das Comeniusprojekt trage zur Völkerverständigung bei: „Meine Schüler konnten viel über ihnen eher unbekannte Lehrer wie Polen und Litauen und deren Geschichte lernen und dadurch mit Vorurteilen aufräumen.“

Und wenn die Worte fehlten, zum Beispiel als die Schüler Zeitzeugen über ihre Erlebnisse im zweiten Weltkrieg befragten, „sprechen die Bilder“, sagte Kunstlehrerin Annet Waßmer.

Sie verarbeitete entsprechende Erfahrungen deshalb bildlich. Es wurde gestickt, fotografiert, gezeichnet und collagiert. Leitmotiv hierbei war stets die Selbstreflexion und das „Sich-in-die-Vergangenheit-Einfühlen-Wollen“. Hierbei beteiligten sich auch internationale Künstler aus den jeweiligen Ländern.

Nikolaus Widerberg aus Norwegen stellte beispielsweise ein Gipsmodell seines Denkmals zur Verfügung. Auch Kunstkurse der Oberstufe des Alfred-Grosser-Gymnasiums arbeiteten mit. „Wir haben uns, unter der Leitung von Kunstlehrerin Stefanie Tuschner, mit Verfolgten im Nationalsozialismus beschäftigt. Hier stickten wir zum Beispiel Bilder dieser betroffener Menschen.“

Kunst war nur eine der vielen Facetten dieses Projekts. Während der Abschlusswoche gab es zum Beispiel noch einen Filmworkshop, in dem man mit dem Smartphone eigene Kurzfilme zusammenstellen konnte; unter der Leitung von Kunstlehrerin Stefanie Tuschner wurden improvisierte Pflastersteinprägungen von den Schülern gestaltet.

Die Schüler besuchten in der Abschlusswoche auch historische Orte: Speyerer Dom, Europaparlament, Hambacher Schloss und das ehemalige Konzentrationslager Osthofen bei Worms. Auf dem Hambacher Schloss posierten die Schüler in Kostümen aus der Zeit des Hambacher Festes 1832. Während es dort um Demokratie und Freiheit gegangen war, mussten die Schüler in Osthofen erfahren, dass die deutsche Geschichte auch dunkle Seiten hatte.

Eine der betreuenden Lehrerinnen, Annette Kliewer, erzählte den Schülern dort, dass es in diesem sogenannten „Umerziehungslager“ als besondere Foltermethode auch Fleisch zu essen gab – und zwar Schweinefleisch für die jüdischen Häftlinge an deren Feiertagen. So sollte Neid und Streit zwischen den Häftlingen provoziert werden.

Mit der Gegenwart der europäischen Einigung beschäftigten sich die Schüler bei einem Besuch im europäischen Parlament in Straßburg. Dort sagten alle, sie fühlten sich als Teil der europäischen Union und seien als junge Generation auch verantwortlich für die Zukunft der EU, so wie Louise-Adélaide Boisnard aus Dijon in Frankreich.

Das Reisen und die Kommunikation, auch mit Menschen aus anderen Kulturen“ bestärkten sie darin, später einmal als Journalistin zu arbeiten. „Vor allem hatte ich hier die Möglichkeit, mal die polnische und litauische Kultur kennenzulernen“, sagte sie.

Das Comeniusprojekt

Das Projekt wurde von der Europäischen Union gefördert. Folgende Lehrer und Lehrerinnen des Gymnasiums Bad Bergzabern waren beteiligt: Annette Kliewer, Eleonore Beinghaus, Elke Neumann (die sogar bis über ihre Pensionierung hinaus mitarbeitete), Stefan Bingler, Sascha Müller, Annett Waßmer und Ralf Weiser. Sie trafen sich einmal im Monat in einer Arbeitsgemeinschaft mit 24 Schülern und investierten viel freie Zeit. (mv)

Es wurde viel gearbeitet während der Abschlusswoche.

Schöne Ausblicke in der Gemeinschaft.

Die Teilnehmer formen das Wort „Comenius“.

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