
Notfallseelsorger Thomas Stephan.
Foto: © Bistum Speyer
Gebiet Bistum Speyer – Der Amoklauf im österreichischen Graz hat auch in Deutschland viele Menschen schockiert.
Ein 21-Jähriger brachte zehn Menschen um, bevor er sich selbst tötete. Doch es sind nicht nur die Angehörigen der Opfer, denen buchstäblich der Boden unter den Füssen weggezogen wurde. Auch die Mitschüler, Freunde und Lehrer brauchen seelischen Beistand, um das gerade Erlebte verarbeiten zu können. In solchen Fällen hilft die Notfallseelsorge – bei Amok-Situationen im Klassenzimmer ganz speziell die „Notfallseelsorge/ Krisenintervention in der Schule“.
Diese besteht im Bistum Speyer aus einem ökumenischen Team von Schulseelsorgerinnen und -seelsorgern. Sie sind gleichzeitig auch ausgebildete Notfallseelsorger. Das Leitungsteam in Speyer setzt sich aus Anke Lind, von der Evangelischen Kirche der Pfalz, und Thomas Stephan, vom Bistum Speyer, zusammen. Allein im letzten Jahr hatte das Team im Raum Speyer 60 Schulnotfalleinsätze.
Ein Blick sagt mehr als 1000 Worte
Doch wie findet ein Notfallseelsorger wie Thomas Stephan in der akuten Situation die richtigen Worte? Und wann ist es besser, vielleicht erst einmal gar nichts zu sagen?
„Ob wir sprechen und wenn ja worüber – das richtet sich natürlich ganz klar nach der Situation und den Bedürfnissen der Betroffenen. Inwieweit sie Gesprächsbedarf haben oder inwieweit sie vielleicht schlichtergreifend einfach nur jemanden brauchen, der erst einmal versucht, den Wahnsinn mit ihnen auszuhalten“, so Stephan.
Denn auch das gemeinsame Schweigen könne wichtig sein, wie Thomas Stephan erklärt: „Ich glaube, es gibt auch viele Situationen, wo man gemeinsam miteinander Schweigen kann. Wo man ohne Worte ganz viel sagen kann. Wenn man versucht, Verständnis aufzubringen, indem man dem Gegenüber Nähe signalisiert. Dafür braucht es nicht immer Worte, da reichen Gesten. Da reicht manchmal ein Blick, der manchmal sogar mehr sagt als 1000 Worte.“
Besonders schlimm ist es für den Diplom-Theologen, wenn Notfallseelsorger Todesnachrichten überbringen müssen. „Wenn man Eltern mitteilen muss, dass ihr Kind verstorben ist. Dass ihr Kind einen tödlichen Unfall hatte. Ganz schlimm sind auch Situationen, wenn es um Gewaltverbrechen geht, wo man sich dann auf einmal fragt: Wie viel Vertrauen kann ich überhaupt noch in Mitmenschen haben, die so etwas anrichten?“
Selbst ein Fehlalarm richtet großen Schaden an
Doch nicht nur ein Amoklauf sorgt bei den Betroffenen für psychische Ausnahmesituationen. Viel häufiger gibt es die sogenannten Amok-Fehlalarme. Und auch wenn kein Verbrechen passiert ist: Die seelische Belastung bei Kindern und Lehrkräften ist danach enorm.
„Wir hatten ja in den letzten Monaten immer wieder sogenannte Amok-Fehlalarme, bei denen an vielen Schulen entsprechende Drohungen eingingen. Man muss dazu sagen: Ein sogenannter Fehlalarm ist ein echter Amok Fall – bis die Entwarnung kommt. Das kann man auch nicht bagatellisieren. Ich hatte auch schon mit Situationen zu tun, wo es ganz konkrete Mord- oder Tötungspläne gegeben hat, gegenüber Schülerinnen und Schülern oder Lehrerinnen und Lehrern. Mit Betroffenen zu sprechen, die auf einer ‚Todesliste‘ standen, das ist etwas sehr Reales. Das bringt Menschen auch regelmäßig an ihre eigenen Belastungsgrenzen.“
Wenn Menschen Opfer von Gewalt oder Aggression werden, dann erschüttert das ihr Vertrauen in andere. Hier muss Thomas Stephan ansetzen und versuchen, dieses Vertrauen zurückzugewinnen. „Die schlimmsten Dinge, die wir zu bewältigen haben, sind sogenannte ‚man-made disaster‘, wenn Betroffene Opfer von Gewalt oder Aggression Anderer werden. Dann ist das Vertrauen in die Mitmenschen massiv erschüttert.“
Doch wie sieht es eigentlich mit Berührungen aus? Darf ein Notfallseelsorger eine betroffene Person aus Mitleid in die Arme schließen? Für Thomas Stephan gibt es hier ganz klare Grenzen. „Grundsätzlich würde ich sagen, sind körperliche Berührungen soweit es geht zu unterlassen. Es gibt bei uns den Leitsatz: so viel wie nötig, so wenig wie möglich. Sollten wir Menschen tatsächlich anfassen und berühren, dann immer vor dem Hintergrund, dass es nicht zu übergriffigen Handlungen kommt. Dass es keine Grenzverletzung ist.“
Die Betroffenen müssen erst einmal überleben
Einen Masterplan, nach dem Stephan vorgeht, gibt es nicht, da jede Extremsituation anders, jede Ausgangssituation unterschiedlich ist und die Betroffenen auch unterschiedlich belastbar oder angeschlagen sind. „Um was es in so einer Situation prinzipiell geht, ist zu allererst, dass diese mit der gerade erhaltenen Nachricht erst einmal überleben müssen. Die nächsten Minuten, die nächsten Stunden. Und dabei nicht völlig wahnsinnig werden oder überschnappen.“
Allerdings ist es Thomas Stephan wichtig zu betonen, dass sich die Notfallseelsorge in der Schule im Detail von der herkömmlichen Notfallseelsorge unterscheidet. „Die Notfallseelsorge in der Schule hat nicht nur die Betreuung von einzelnen Personen im Blick, sondern sie hat auch einen systemischen Auftrag“, erklärt er. „Das bedeutet, das ganze System Schule zu betreuen. Das sieht man auch am Beispiel in Graz. Es geht nicht nur um die Betreuung einzelner Menschen. Wir haben da eine Rechnung aufgestellt: Wenn 500 Schülerinnen und Schüler einer Schule von einem Amokfall betroffen sind, haben rund 1500 Menschen Gesprächs- und Betreuungsbedarf. Man kann die Schülerzahlen also um das Dreifache erhöhen, wenn die Angehörigen sowie die Lehrer und Lehrerinnen, wiederum mit ihren Angehörigen, dazu gezählt werden. Dann braucht es für 1500 Menschen unterschiedliche Angebote.“
60 Schulnotfalleinsätze gab es für Thomas Stephan im Jahr 2024. Auch wenn die Einsätze in den nächsten Jahren sicher nicht weniger, sondern eher mehr werden: Er ist da, um zu helfen. Damit die betroffenen Schüler und Lehrkräfte nach solchen Situationen nicht alleine gelassen werden. Sondern durch ihn und seine Kollegen professionelle Hilfe bekommen. (Parviz Khosrawi)

