„AGgegenRechts“, Heiner Geißler und die Menschenwürde

30. Januar 2013 | Kategorie: Kreis Germersheim, Regional

Dominic Scheid (li) und Raoul Sitter überreichten Heiner Geißler einen Kandeler Wein nebst „Schoppeglas“. Fotos: Licht

Kandel. Eine „absolute Erfolgsgeschichte“ – so nannte Jürgen Burg, Schulleiter der IGS Kandel, mit unverhohlenem Stolz auf seine couragierten Schüler die vor 10 Jahren an seiner Schule gegründeten „AGgegenRechts“.  Der Name der AG wurde zwischenzeitlich angepasst und heißt nun zusätzlich „AGgegenExtremismen“.

Die AG bietet Schülern der IGS Kandel die Möglichkeit, sich mit der Problematik von Extremismus allgemein, vor allem jedoch Rechtsextremismus, zu beschäftigen, hält eine Erinnerungskultur an der Schule aufrecht, organisiert Informationsveranstaltungen und arbeitet mit Initiativen gegen Rechts, der Universität Landau und der Landeszentrale für Politische Bildung in Mainz zusammen, um latentem rechten Gedankengut in all seinen Erscheinungsformen entgegen zu treten.

Parallel zum Internationalen Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus konnte die AG Geburtstag feiern – und einen berühmten Gastredner gewinnen: Dr. Heiner Geißler, Bundesminister a.D., Politiker, Schlichter, Autor und Philosoph, kam zu einem Vortrags- und Diskussionsabend in die Kandeler Stadthalle. Wolfgang Holzner, Lehrer an der IGS und Betreuer der AG, organisierte und moderierte gemeinsam mit den Schülern Raoul Sitter, 12 b, und Dominic Scheid, 12 d.

Nachdenklich stimmte bereits das einführende Klavierstück von Musiklehrer und Jazz-Musiker Ralf Bereswill: „Die Gedanken sind frei“ – jedoch mit verschiedenen, teils beklemmenden Variationen zu einer nicht weniger bedrückenden Bilderabfolge auf der Großleinwand. AG-“Chawwerusch“-Patin Sabine Felix sprach das Gedicht „Die Maßnahme“ von Erich Fried.

Stichwort für Heiner Geißler, der streitbar in die Thematik einstieg, die ihm ganz besonders am Herzen liegt: Ein flammendes Plädoyer für eine Welt jenseits von Intoleranz, Diskriminierung, Mobbing und Gewalt.

Geißler, Jahrgang 1930, sagte mit Blick auf eigene Kindheitserfahrungen, er reagiere bis heute auf Intoleranz, Faschismus und jede Form von Extremismus „absolut allergisch und intolerant“. So seien eine befreundete Roma-Familie und seine halbjüdische Klavierlehrerin deportiert worden, die eigenen Eltern schikaniert, strafversetzt und eingesperrt. Mit einem Ausflug in die neuere Geschichte von der Kleindeutschen Lösung im Spiegelsaal zu Versailles über die Weimarer Republik versuchte Geißler die Mechanismen zu erläutern, wie soziale Not und Ungerechtigkeit zu „staatlich organisierter Intoleranz“ in Nazi-Deutschland geführt hatten.

Und so würde auch heute wieder eine verlorene Generation heranwachsen in Europa – mit Jugendarbeitslosigkeitsraten von über 50 Prozent, die durch Perspektivlosigkeit Gefahr liefen, Heilsversprechen jedweder Art und Richtung zu verfallen.

Religiöse Fundamentalisten wie Islamisten, die das Paradies versprächen, Wirtschafts- oder verirrte Geistesideologien würden sich auf dieser Grundlage entfalten, die Intoleranz zwischen den Menschen zunehmen, ist Geißler überzeugt. „Die Intoleranz ist das Schwert der Fundamentalisten, aber auch eine Waffe von rücksichtslosen Individuen, die in Beruf und Familie, in Politik und Wirtschaft ihre Mitmenschen ins Unglück stürzen.

„Neben der Rassen- und Religionsapartheid ist die Geschlechtsapartheid zur schlimmsten Form der Intoleranz geworden“, so Geißler. „Und Frau zu sein heißt, der am meisten diskriminierten Gruppe anzugehören.“ Entrechtet, geschändet, versklavt, vielerorts beschnitten – Letzteres prangerte Geißler als „schlimmste Barbarei gegenüber Frauen“ an. Zwangsprostitution, Schuldknechtschaft bestimmten die Lebensschicksale von vielen hundert Millionen Frauen. „Von einer Milliarde Analphabeten auf der Erde sind 800 Millionen Frauen, weil sie von Bildungssystemen ferngehalten werden.“ Auch eine weitere bedrohliche Kategorisierung sieht Geißler in naher Zukunft: „Der Mensch als Kostenfaktor. Man soll sich nun selbst einen Kapitalstock bilden, um im Alter die Pflege zu bezahlen? Sagen Sie das mal einer Lidl-Verkäuferin oder einem Fabrikarbeiter. Wo soll das Geld denn herkommen“, schnaubte ein sichtlich aufgebrachter Heiner Geißler.

Die Aufgabe der Zukunft sieht Geißler in einer Art Weltphilosophie mit der Grundsatzfrage „Was ist der Mensch, wer ist ein Mensch?“. „Das war nicht immer selbstverständlich, es wechselte von Gesellschaft zu Gesellschaft“, sagte Geißler, der das Thema auch in verschiedenen Büchern behandelt hat. Man müsse die Befreiung der Menschen von den Zwängen der Intoleranz durch Wissen, Bildung und ein gemeinsames humanes Menschenbild begründen. „Zum Glück ist unser wichtgster und mit keiner Mehrheit zu ändernder Paragraph: Die Würde des Menschen ist unantastbar.“

Der ehemals als „schwarzer General“ titulierte CDU-Generalsekretär ließ aufhorchen: Sich dem Diktat kapitalistischer Strukturen widersetzen? Geld umverteilen? Fast wollte man dem Redner eine andere Parteifarbe zuordnen. „Es gibt in Deutschland Geld wie Dreck“, schimpfte Geißler. „Es haben nur die falschen Leute – unter anderem Spekulanten, die riesige Summen um den Erdball jagen und Geld mit Geld machen.“

Da sei die Politik gefragt, die dafür Sorge zu tragen habe, dass soziales Elend beseitigt und in einer reichen Welt keiner mehr hungern müsse: „Alle Menschen müssen Anteil am Wohlstand haben.“

Zu einem kleinen, fast verschämten, aber doch deutlichen politischen Bekenntnis ließ Geißler sich zum Abschluss seiner Rede hinreißen: „Die jetzige Regierungskoalition ist eine Falle. Mit einer Fortsetzung der Großen Koalition – ja, da hätten wir etwas bewegen können.“

Bevor der Ehrengast verabschiedet wurde, durfte dieser noch eine Unterschrift leisten: Eberhard Dittus, Vorsitzender des Fördervereins „Gedenkstätte für NS-Opfer in Neustadt.e.V.“ konnte Heiner Geißler als hundertstes Mitglied des Fördervereins eintragen. (cli)

 

 

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