Freitag, 26. April 2024

Verfassungsgericht: Politik muss Behinderte bei Triage schützen

28. Dezember 2021 | Kategorie: Nachrichten

Foto: Pfalz-Express

Karlsruhe  – Das Bundesverfassungsgericht hat den Gesetzgeber aufgefordert, „unverzüglich“ Vorkehrungen zum Schutz behinderter Menschen für den Fall einer pandemiebedingt auftretenden Triage zu treffen.

Das geht aus einem Beschluss vom 16. Dezember hervor, der am Dienstag veröffentlicht wurde. Die Karlsruher Richter entschieden dabei, dass der Gesetzgeber die Verfassung verletzt hat, weil er es bisher unterlassen hat, entsprechende Vorkehrungen zu treffen.

Die Politik müsse dafür Sorge tragen, dass jede Benachteiligung wegen einer Behinderung bei der Verteilung pandemiebedingt knapper intensivmedizinischer Behandlungsressourcen hinreichend wirksam verhindert werde, hieß es. Der Gesetzgeber sei gehalten, dieser Handlungspflicht „unverzüglich durch geeignete Vorkehrungen nachzukommen“.

Bei der konkreten Ausgestaltung komme ihm ein Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum zu, so das Verfassungsgericht. Hintergrund der Entscheidung ist eine Verfassungsbeschwerde mehrerer Personen, die schwer und teilweise schwerstbehindert und überwiegend auf Assistenz angewiesen sind. Sie begehrten einen wirksamen Schutz vor Benachteiligung von Menschen mit einer Behinderung im Fall einer Triage. Die Beschwerdeführer waren der Auffassung, der Gesetzgeber schütze sie in diesem Fall nicht vor einer Diskriminierung aufgrund ihrer Behinderung (1 BvR 1541/20).

Bundesregierung will Triage-Gesetzentwurf „zügig“ vorlegen

Nach dem Triage-Urteil will die Bundesregierung „zügig“ einen entsprechenden Gesetzentwurf vorlegen. Das kündigte Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) am Dienstag über den Kurznachrichtendienst Twitter an. „Das erste Ziel muss sein, dass es erst gar nicht zu einer Triage kommt“, schreibt er. Wenn aber doch, dann bedürfe es klarer Regeln, die Menschen mit Handicaps Schutz vor Diskriminierung bieten.

Triage-Urteil stößt auf Zustimmung

Das Urteil  ist bei Patientenschützern und in der Politik auf Zustimmung gestoßen. „Auf dieses Urteil haben wir 40 Jahre lang gewartet“, sagte der Vorstand der Stiftung Patientenschutz, Eugen Brysch, der „Rheinischen Post“. „Entscheidungen über Leben und Tod in Knappheitssituationen dürfen nicht den Ärzten überlassen werden.“

Der Deutsche Bundestag dürfe sich da nicht weiter wegducken. „Das Verfassungsgericht hat den Bundestag nun mit diesem Urteil gezwungen, im kommenden Jahr ein Gesetz zu beschließen, das Leitplanken für die Behandlung von Patienten in Knappheitssituationen setzt“, sagte Brysch. „Das ist überfällig, denn wir erleben ja jetzt in der Coronakrise solche Knappheiten auf den Intensivstationen.“ Die Politik sei bei dieser schwierigen Frage nicht außen vor, denn sie stelle ja die Finanzmittel für das Gesundheitssystem bereit.

Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD ) schrieb unterdessen bei Twitter, dass er das Urteil ausdrücklich begrüße. „Menschen mit Behinderung bedürfen mehr als alle anderen des Schutzes durch den Staat. Erst Recht im Falle einer Triage.“ Jetzt aber heiße es, Triage durch wirksame Schutzmaßnahmen und Impfungen zu verhindern, so der SPD-Politiker.

Weltärztepräsident Frank Ulrich Montgomery forderte den Gesetzgeber auf, „Leitplanken“ zu definieren, an denen sich Ärzte bei ihrer Entscheidung orientieren könnten. „Der Bundestag definiert die Leitplanken, medizinisch-wissenschaftlich kompetente Organisationen formulieren die Handlungsleitlinien – und passen sie entsprechend dem Stand der Wissenschaft an“, sagte er. Aber die Verantwortung für die Letztentscheidung werde immer bei den Ärzten bleiben.

FDP-Vize Wolfgang Kubicki bezeichnete das Triage-Urteil unterdessen als „rechtlich nachvollziehbar“. Nach der Wertentscheidung des Grundgesetzes müssten Fragen von Leben und Tod durch den Gesetzgeber entschieden werden und nicht durch private Übereinkunft.

(dts Nachrichtenagentur)

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