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Comenius-Projekt zum Zweiten Weltkrieg: „Erst ab minus 31 Grad mussten wir nicht mehr raus“

25. September 2014 | Kategorie: Kreis Südliche Weinstraße, Regional

V.li.: Stefanie Müller (Schüler), Max Berger (Schüler), Alfred Grosser, Larissa Rohde (Schüler), Jana Hitziger (Schüler), Benedikt Gubisch (Schüler), Johanna Ginzer (Schüler), Josef Ehrmann und Gattin (Zeitzeugen).
Foto: Lars Oberhofer

Bad Bergzabern – Schüler des Gymnasiums stellten als Ergebnis eines europäischen Projekts im Schloss Bad Bergzabern einen Interviewband mit Zeitzeugen zum Ende des Zweiten Weltkriegs und zum Umbruch 1989 vor.

218 Seiten stark ist der Interviewband mit 36 Zeitzeugen, die Schüler des Gymnasiums im Alfred-Grosser-Schulzentrum seit 2013 zum Ende des Zweiten Weltkriegs und zur Wende 1989 befragten. Außerdem stellten sie im Schloss Bad Bergzabern Kunstprojekte zu diesen Themen vor.

Die Arbeit ist Teil eines europäischen Comeniusprojekts, an dem auch Schüler aus Litauen, Polen (Umbruch 1989), Frankreich (1945 und Algerienkrieg), Norwegen (Immigrationsgeschichte und Attentat von 2011) sowie Italien teilnehmen.

„Erst bei unter minus 30 Grad mussten wir nicht mehr draußen arbeiten”, sagt der heute 91-jährige Gustav Eck aus Dierbach. Er war nach drei Jahren an der Ostfront von 1945 bis 1949 in russischer Kriegsgefangenschaft.

Die sei schlimmer als der Krieg selbst gewesen: „Hunger, Kälte, Misshandlungen, Gefängnis, Verhöre” habe er dort erlebt. Gustav Eck ist einer der 36 Zeitzeugen, die von den Schülern des Gymnasiums befragt wurden.

 Diskussion mit Alfred Grosser

Professor Alfred Grosser, Namensgeber des Schulzentrums Bad Bergzabern, hat sich sein Leben lang für die europäische Verständigung eingesetzt.

„Können nicht zuerst die Schüler was sagen?” ist seine erste Äußerung; „Ich spreche in einem von Frankreich zerstörten Gebäude”, sagt der 89-Jährige dann über das Bergzaberner Schloss.

Er selbst floh mit seiner Familie 1933 aus Frankfurt und ist seitdem auch Franzose. Anschließend erzählt er sowohl vom französischen Algerienkrieg als auch davon, dass junge Deutsche oft „unwissend zur Hitlerjugend” kamen.

So wirbt er für europäische Verständigung. Dazu passe auch der Reader der Schüler. „Sie müssen es lesen, um zu sehen, wie heute Jugendliche sehen, was Jugendliche damals erlebt haben”, fordert Alfred Grosser die zahlreichen Zuhörer im Bürgerbüro des Schlosses Bad Bergzabern auf.

„Jedes Trauma, das man nicht in Worte fasst, kommt eines Tages wieder zurück und kann verheerende Folgen haben”, habe einer der Zeitzeugen gesagt, erzählt eine der betreuenden Lehrerinnen, Annette Kliewer vom Gymnasium im Alfred-Grosser-Schulzentrum.

Deshalb hätten die Schüler aus Bad Bergzabern gemeinsam mit Norwegern, Litauern, Polen, Franzosen und Italienern erforscht, wie die Nationen mit ihrer Vergangenheit umgehen.

In jedem Land haben eigene Themen im Mittelpunkt gestanden. In Litauen und Polen die Wende 1989, in Frankreich 1945 und der Algerienkrieg, in Norwegen die Immigrationsgeschichte und das Attentat von 2011 und in Deutschland die Wende 1989.

Bei der Veranstaltung im Schloss teilten die Schüler „ihren“ Zeitzeugen den Reader mit den Interviews aus. Neben Vertretern aus Wissembourg und dem Kreisbeigeordneten Bernd Lauerbach (FDP) begrüßte Verbandsgemeindebürgermeister Hermann Bohrer (SPD) als Gastgeber die Schüler, Zeitzeugen und Lehrer, darunter Schulleiter Philipp Gerlach, sowie Professor Grosser.

Er freue sich, dass die Schüler sich mit zwei einschneidenden Ereignissen im vergangenen Jahrhundert beschäftigt haben, indem sie Menschen befragten, die dabei waren, so Hermann Bohrer. Seit 2013 haben alle Beteiligten an den Interviews gearbeitet. „Teilweise mussten die Schüler noch aus anderen Sprachen übersetzen“, sagt Annette Kliewer.

„Ich bin froh, dass sich die jungen Leute dafür interessieren“, so Gustav Eck, der ehemalige russische Kriegsgefangene. Seine Enkelin Julia Steegmüller aus Landau kennt die Geschichten auch und sagt, ihr Großvater sei damals im gleichen Alter gewesen wie die Schüler heute.

„Gegen seine Erlebnisse haben wir heute nur Luxusprobleme“, sagt die Lehramtsstudentin aus Landau. Ihr Großvater schmunzelt. „Wenn ich an unseren Hunger denke, das kann man kaum vermitteln, wie das war“, sagt er.

An medizinischer Ausrüstung für die unterernährten, von Wanzen malträtierten, durchgefrorenen Gefangenen habe es nur ein Fieberthermometer gegeben. „Viele sind verstorben“, sagt Gustav Eck. Ihn habe sein Glauben am Leben erhalten.

Eleonore Beinghaus, eine der Lehrerinnen, die das Projekt betreut, mit Zeitzeuge Gustav Eck, Jahrgang 1925, der den Schülern von seiner Kriegsgefangenschaft in Russland erzählte.
Foto: Stefan Bingler

Seit er wieder nach Hause kam, gebe es keine Beschwerden mehr: „Wenn Sie keinen Stacheldraht mehr um sich haben, wenn sie frei laufen können, ohne an andere Gefangene angekettet zu sein, ist jeder Tag ein Geschenk“. Nur auf einer Sache bestehe er, sagt Gustav Ecks Enkelin: „Beim Opa wird nix weggeschmissen – selbst abgelaufene Lebensmittel.“

Bei anderen hat der Krieg sogar für eine Versöhnung mit dem ehemaligen „Feind“ gesorgt: Anna Bingler aus Bad Bergzabern, eine der Schülerinnen, die bei dem Projekt mitgemacht haben, erzählt, dass „ihr“ Zeitzeuge  – der Franzose Josef Ehrmann (geboren 1937 im Elsass) – sich seit Kriegsende für die deutsch-französische Freundschaft einsetzt.

Frau Ehrmann und Josef Ehrmann (Jahrgang 1937, Elsässer, heiratete eine Deutsche und setzte sich als Franzose für die dt.-frz. Verständigung ein.
Foto: Stefan Bingler

„Er ist nach dem Abitur durch Deutschland getrampt und habe gemerkt, dass es auch vernünftige Deutsche gebe“, erzählt Anna Bingler fasziniert. Er habe sogar eine Deutsche geheiratet. Josef Ehrmann steht daneben und lächelt. Er habe dann unter anderem Deutsch studiert, um zu unterrichten.

„Beim Studium in Marburg habe ich dann meine deutsche Frau kennengelernt – das fand mein französischer Vater allerdings gar nicht gut“, erzählt Josef Ehrmann weiter. Seine Frau, die lange Lehrerin am Gymnasium in Bad Bergzabern war, lächelt ebenfalls.

Andere Zeitzeugen mussten aber genauer befragt werden. „Meine Zeitzeugin zum Thema 1989 hat zuerst wenig geredet“, erzählt Jana Hitziger aus der Schülergruppe.

Angesichts des Beitrags der Schüler zur Völkerverständigung in Europa beginnt Alfred Grosser die anschließende Diskussion mit Schülern damit, dass das Asylrecht in Deutschland „verwässert“ worden sei. „Man muss sehr aufpassen, christliche Werte in der Politik zu finden“, sagt der französische Politikprofessor.

Er selbst habe sich in Frankreich 1934 schon 14 Tage nach der Ankunft zuhause gefühlt. Als einer der Schüler, Max Berger, Alfred Grosser danach fragt, was aus der Idee der vereinigten Staaten von Europa geworden sei, bedauert der Deutsch-Franzose, dass es heute leider ein Europa der Staaten gebe. „Eine neue Gefahr für Europa ist das innere Zusammenbrechen“, mahnt er mit Blick auf das Unabhängigkeitsreferendum in Schottland.

„Fast immer liegt das daran, dass die Reichen nicht teilen wollen“, ergänzt er und sagt an die Adresse der Deutschen, dass Richtung Griechenland noch nicht ein Euro geflossen sei. „Das sind ja nur Bürgschaften, aber das schreiben die Zeitungen nicht“, bedauert Alfred Grosser. Dabei hätten die Westdeutschen 45 Jahre im Wohlstand gelebt – „ein Wohlstand, der insofern unverdient war, als er Produkt eines Zufalls war“, nämlich der Einbindung in den Westen.

Als Stefanie Müller, ebenfalls Schülerin am Gymnasium, Alfred Grosser nach den Friedenschancen im Nahen Osten fragt, bezieht er Stellung: „Ich sehe zwar auch keine gute Lösung, aber Bombardieren ist auf jeden Fall keine Lösung. Gewalt ist keine Lösung. Die Gewalt ist das Problem.“ Aber die Dinge seien kompliziert und das sei auch ein Problem, weil komplizierte Fragestellungen in den Medien nicht interessierten.

An diesem Dienstagabend ist der 89-Jährige nicht zu bremsen. Erst als der Schulleiter des Gymnasiums, Philipp Gerlach, gemeinsam mit Annette Kliewer wiederholt an das wartende Essen erinnert, beendet Alfred Grosser die Diskussion mit seinen Schülern, die ihm besonders am Herzen liegt.

V.li.: Verbandsgemeindebürgermeister Hermann Bohrer, Alfred Grosser, Mme Grosser, Schulleiter des Gymnasium Philipp Gerlach, Annette Kliewer, eine der Leiterinnen des Projekts.
Foto: Stefan Bingler

Das Comenius-Projekt

Im Comenius-Projekt „Europäische Erinnerungskulturen. Umbrüche und Aufbrüche in Gesellschaften und Biographien“ beschäftigen sich Schüler aus Wadowice (Polen), Vilnius (Litauen), Ghedie (Italien), Lillesand (Norwegen), Dijon (Frankreich) und Bad Bergzabern damit, wie eine Gesellschaft mit den für sie wichtigen Erfahrungen umgeht.

Die Bergzaberner Schüler haben zum Beispiel Zeitzeugen zu den Umbrüchen 1945 und 1989 interviewt und die Ergebnisse in einem Buch zusammengestellt. In Frankreich geht es um 1945 und um den Algerienkrieg, in Norwegen um Immigrationsgeschichte und das Attentat von 2011 und in Litauen und Polen um den Umbruch 1989.

Die Schüler setzen sich bis zur Abschlusswoche ab 13. April 2015 schreibend, theaterspielend, filmend und künstlerisch damit auseinander, wo in der Geschichte ihres Landes Brüche waren und wie ihre jeweiligen Kulturen sich daran erinnern.

Das Projekt läuft seit 2013 und endet mit einer Abschlusswoche mit allen Partnern ab 13. April 2015. Es wird von der Europäischen Union bezahlt.

Folgende Lehrer des Gymnasiums Bad Bergzabern sind beteiligt: Annette Kliewer, Eleonore Beinghaus, Stefan Bingler, Verena Hofmeister, Sascha Müller, Victoria Siegert, Annett Waßmer und Ralf Weiser. Sie treffen sich einmal im Monat in einer Arbeitsgemeinschaft mit 30 Schülerinnen und Schülern. (mv/red)

 

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