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Speyer: Ulfila-Blatt – Ein rotes Blatt mit großer Geschichte

Auffindung des „Ulfilas-Blattes“ vor 50 Jahren – Spektakulärer Zufallsfund bei Restaurierung der Afrakapelle

29. September 2020 | Kategorie: Kultur, Neustadt a.d. Weinstraße und Speyer, Panorama, Wissenschaft

Das Ulfila-Blatt
© Domschatz im Historischen Museum der Pfalz Speyer, Foto: Peter Haag-Kirchner

Speyer – Eine mysteriöse alte Kiste kam im Oktober 1970 bei Renovierungsarbeiten der St. Afrakapelle im Speyerer Dom zum Vorschein. Der Inhalt: Ein etwa 22 mal 27  Zentimeter großes Pergament, blutbefleckte Kleidungsstücke und menschliche Gebeine – Reliquien aus vergangenen Jahrhunderten.

Im April 1970 begann die Sanierung der Kapelle. Im Herbst desselben Jahres kam es schließlich zu dem sensationellen Fund. Ein kulturhistorischer Rückblick auf die Geschichte des sogenannten Ulfila-Blatts, das heute im Dom- und Diözesanmuseum im Historischen Museum der Pfalz aufbewahrt wird.

Entdeckt hatte die Handschrift der Speyerer Domvikar Dr. Franz Haffner im Oktober des Jahres 1970 unter Bodenplatten in der Nähe des Altares der Kapelle, gemeinsam mit menschlichen Überresten. Die Gebeine wurde durch einen beigelegtem Zettel dem Bischof Erasmus zugewiesen. Daneben befand sich das Pergament, das um ein rundes Holzstück gewickelt war. Umhüllt war das Blatt von zwei Büttenpapierblättern mit einem Wasserzeichen, datiert auf das 16. Jahrhundert.

Nach längeren Recherchen und dem Austausch mit Experten ist eines klar: Das sehr gut erhaltene Pergament-Papier ist von hoher kulturgeschichtlicher Bedeutung. Das „Haffner-Blatt“ ist eine verschwundene Seite des „Codex Argenteus“, eine Abschrift der Evangelien in silbernen Buchstaben. Dabei handelt es sich um die erste von Bischof Wulfila (311–383) im 4. Jahrhundert geschaffene Übersetzung ins Gotische. Für diese Übersetzung erfand Wulfila die gotische Schrift. Der Codex, ursprünglich bestehend aus 336 Seiten, ist in der schwedischen Stadt Uppsala archiviert. Allerdings nur 187 Seiten. Was mit den restlichen 149 Blättern geschah, war lange ungewiss. Bis eines der fehlenden Blätter vor 50 Jahren gefunden wurde.

Dass das Speyerer Blatt tatsächlich zum „Codex Argenteus“ gehört, klärte sich bei genauen Untersuchungen. Die silbern- und goldene Farbe der Schrift, die purpurgefärbte Seite, die Monogramme der Evangelisten am unteren Rand. Beim inhaltlichen Aspekt wurde es schließlich noch deutlicher. Der Uppsala-Codex endet mit dem 16. Kapitel des Markusevangeliums. Und bricht plötzlich mit den Worten „Afaruh pan pata“ ab. Exakt an dieser Stelle setzt das im Dom gefundene Fragment an und stellt somit die letzte Seite des Codex dar. Sicherlich kein Zufall. Zudem stimmen die Wurmlöcher bei beiden Dokumenten exakt überein. Ein eindeutiger Beweis.

Der komplette „Codex Argenteus“, inklusive des Speyerer Pergaments, brachte der heilige Luidger im 8. Jahrhundert von einer Italienreise in die von ihm gegründete Abtei Werden an der Ruhr. In der Abtei wurden, so lautet die Vermutung, 149 der insgesamt 336 Blätter aus dem Codex entnommen. Vermutlich geklaut, verkauft oder verschenkt. Ohne jegliche Reihenfolge.

Der restliche Codex wurde schließlich an den Kaiser Rudolf II. abgetreten. Er brachte ihn auf seine Burg in Prag. Im 30-jährigen Krieg erbeuteten die Schweden die berühmte Handschrift. Nach der Station Niederlande, wo der Codex gebunden wurde, ist die Abschrift seit dem 17. Jahrhundert in der Universitätsbibliothek Carolina Rediviva in Uppsala archiviert.

Und wann wurde das Speyerer Blatt vom Codex getrennt? Das ist das nächste Mysterium. Die Fachleute sind sich unschlüssig. Im Frühmittelalter oder doch erst im 16. Jahrhundert? Genauso wie nur spekuliert werden kann, wann es den Erasmus-Reliquien zugeführt wurde. Der Finder Haffner ist überzeugt: Das Blatt kam im 16. Jahrhundert in den Besitz des Erzbischofs von Magdeburg, Albrecht von Brandenburg. Einen Hinweis stellen die Erasmus-Reliquien dar, die er ebenfalls besaß. Seine Reliquiensammlung vermachte der spätere Erzbischof von Mainz im Jahr 1540 dem Mainzer Dom.

Unter der Auflistung der Gegenstände werden die Erasmus-Überreste genannt, jedoch findet sich kein Hinweis auf das Ulfila-Blatt. Nachdem der Domschatz 1792 nach Aschaffenburg gebracht wurde, gelang ein Teil zwischen 1822 und 1825 zur Diözese Speyer. Der Bischof Nikolaus von Weis untersuchte daraufhin zusammen mit dem Domkapitel diese Reliquien. Trotz seiner hohen theologischen Bedeutung wurde das 1500 Jahre alte Pergament von ihnen wohl übersehen. Alle Überreste zweifelhafter Authentik wurden schließlich am 25. November 1859 in der kleinen Kiste begraben. Jene Kiste, die 1970 gefunden wurde.

Der spektakuläre Fund war eine wissenschaftliche Sensation und erzeugte großes internationales Aufsehen. Es ist bis heute das einzige verschwundene Blatt des Codex, das jemals wieder aufgetaucht ist. Es wanderte durch die Geschichte Europas. Es wirft immer noch viele ungeklärte Fragen auf. Aber eines ist klar: Hergeben und zum Codex in Uppsala hinzufügen wollen es die Speyerer nicht.

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