„Anti-Digitalisierungs-Papst“ Manfred Spitzer in Herxheim: „Internet macht dumm, krank und unsozial“ – unscharfe Theorien

24. März 2017 | Kategorie: Kreis Germersheim, Kreis Südliche Weinstraße, Landau, Regional
Geht streng mit den neuen Medien ins Gericht: Prof. Dr.Dr. Manfred Spitzer. Fotos: Pfalz-Express/Licht

Geht streng mit den neuen Medien ins Gericht: Prof. Dr.Dr. Manfred Spitzer.
Fotos: Pfalz-Express/Licht

Kommentierender Artikel von Claudia Licht

Herxheim – „Aktive Verdummung“, „aberwitzig“, „unsozial“ – für den Psychiater und Hirnforscher Prof. Dr. Dr. Manfred Spitzer ist die Digitalisierung besonders für Kinder und Jugendliche fatal.

Elektronische Medien und Gehirnentwicklung vertragen sich laut Spitzer nun mal gar nicht. In seinen populärwissenschaftlichen Vorträgen und Büchern (z.B. „Digitale Demenz“) wird er nicht müde, die negativen Auswirkungen von Handy, Tablet und Co. auf junge Menschen in der Adoleszenz – oder noch schlimmer: Kindheit – hinzuweisen und beruft sich dabei auf zahlreiche „nationale und internationale“ Studien.

So auch am Dienstag beim Sparkassen-Forum in der Festhalle in Herxheim, die bis auf den letzten Platz besetzt war. Seine Zuhörer hatte der Professor mit verständnisinnigen Erklärungen und hin und wieder einem Scherz auf den Lippen schnell im Griff – und für sich eingenommen.

Dass es zu den besagten Studien auch unabhängige Studien gibt, die das Gegenteil besagen oder diese aufheben, kam nicht zur Sprache.

Prof. Manfred Spitzer, Herxheim, Digitalisierung

Nun ist wohl jedem, der ein wenig gesunden Menschenverstand besitzt, klar, dass eine Dauerbeschäftigung mit digitalen Endgeräten gerade bei Kindern und Jugendlichen nicht der Weisheit letzter Schluss sein kann. Dass zocken, chatten, mailen, WhatsApp und Facebook erhebliche Suchtpotenziale in sich bergen, hat sich ebenfalls schon rumgesprochen.

Laut Spitzer werde diese Erkenntnis aber immer noch verweigert, obwohl man mit CT-Untersuchungen die aktiven Suchtzentren im Gehirn deutlich nachweisen könne. Ob dem Professor die vielen Suchtpräventionsprogramme, Aufklärungskampagnen und Therapiemöglichkeiten für Internetsüchtige entgangen sind? Von Negieren kann da eigentlich keine Rede sein.

„Facebook macht unzufrieden“

Dass durch stundenlanges Stillsitzen beim Zocken die Motorik leidet: einleuchtend. Auch die Feinmotorik gehe durch „tippen statt schreiben“ immer mehr verloren, sagt Spitzer. Da ist was dran, kein Zweifel. Viele Warnungen des Wissenschaftlers haben Substanz.

So mache Facebook laut Spitzer Kinder und Jugendliche (und auch manchen Erwachsenen) unzufrieden und depressiv. Verständlich, denn auf der Plattform scheint fast immer alles, was andere tun, erfolgreich und dynamisch zu sein. Andererseits: Kontakt zu Freunden halten, auch über größere Distanzen, ist auch nicht schlecht.

Nichts geringeres als eine „Bildungskatastrophe“ prophezeit Spitzer weiterhin: „Schulen zu digitalisieren ist das unsozialste, was man tun kann. Völlig aberwitzig.“ Und wieder beruft er sich auf eine britische Studie mit über 130.000 Noten an Schulen, an denen Laptops, Tablets und Handys verboten wurden. Nach dem Verbot seien die Leistungen kontinuierlich gestiegen. Als Beweis dient eine einfache Grafik mit einem schwarzen Balken.

„Total abgelenkt“

Digitale Medien im Unterricht lenken ab, sagt Spitzer, und präsentiert dazu Zahlen. Multitasking sei ganz unmöglich, niemand könne zwei Bedeutungsstränge gleichzeitig verfolgen: „Zwei Bücher gleichzeitig lesen, damit man schneller fertig ist – das funktioniert nicht.“ Will heißen, einerseits den Ausführungen des Lehrers zu folgen und anderseits schnell „Mails checken“ – das klappt nicht. Stimmt.

Der Professor („ich bin da emotional beteiligt“) redet sich weiter warm: „Bildungsministerin Wanka sorgt mit ihren 5 Milliarden für Digitalisierung an Schulen dafür, dass Schüler 30 Prozent ihrer Zeit auf Facebook oder beim Onlineshopping verbringen. Mit unser aller Steuergelder.“ Sogar von einer Art „Digitalpakt“ der Elektronikindustrie mit der Politik ist die Rede.

Das Smartphone abends im Bett? Katastrophe, findet der Fachmann und führt die wach machende Wirkung des Blaulichts auf die Rezeptoren aus – räumt später aber ein, dass moderne Mobilgeräte mit einem Nachtfilter ausgestattet sind, der das Blaulicht ausblendet. Dass eine möglicherweise aufregende Nachricht von Facebook-Freunden schlafraubend sein kann, steht auf einem anderen Blatt und ist unbedingt nachvollziehbar.

Nichtsdestotrotz: Handys im Bett seien der Grund dafür, dass heutzutage alle Schüler müde seien. War Schülermüdigkeit am Morgen aber jemals anders – auch zu Zeiten, als Comics (seinerzeit ebenfalls verteufelt) oder Karl May mit der Taschenlampe unter der Bettdecke gelesen wurden? Müde Schüler gibt es heute und es gab sie schon vor hundert Jahren.

Unscharfe Theorien

Sind denn wenigstens die schnell verfügbaren Informationen über Google und andere Suchmaschinen förderlich für die Bildung? Nein, bestreitet Spitzer vehement, das Gegenteil sei der Fall, denn „nach einer Studie im Fachblatt Science“ verbleibe aus einem Buch Erlerntes 20 Mal besser im Gedächtnis haften als digital Gelesenes.

„Die Cleveren nutzen weniger Wikipedia und mehr Bibliotheken“, behauptet Spitzer. Möglicherweise nutzen diese „Cleveren“ ja beides und Mathe-Verzweifelte finden Hilfe bei anschaulich dargestellten YouTube-Videos, die schon manche gut gemeinte, aber vertrakte Lehrer-Erklärung erleuchtet hat? Offenbar kann aber in Spitzers analoger Wunschwelt nicht sein, was nicht sein darf.

Außerdem berge Google Risiken, warnt Spitzer (mit Blick auf seinen schicken Apple-Laptop) weiter, beispielsweise bei medizinischen Suchanfragen: „Tippen Sie Kopfschmerzen ein und Sie bekommen in 0,1 Sekunden „Gehirntumor“ angezeigt.“ Das bereite Ängste und könne zu falschen Schlüssen führen. Überhaupt: Wer durch´s Internet dumm geworden sei, könne sowieso nicht wirklich googeln, weil er gar nicht wisse, nach was er fragen solle.

Was die medizinischen Tipps angeht: Im guten alten „Hausarzt“ aus Papier steht allerdings auch nichts anderes – und dass ein (analoger) Arztbesuch Beschwerden klären sollte, müsste eigentlich klar sein.

Apropos: Ängste verunsicherter Eltern bedient Spitzer gerne mit mit Zahlen und einfachen Balkengrafiken: Bluthochdruck, Übergewicht, Diabetes II, Augenschäden – das alles passiert, wenn die Kids vor ihren Bildschirmen dahin vegetieren. Andere mögliche Komponenten? Die werden gar nicht erst in Betracht gezogen.

Dass es sich dabei um Extremfälle bei exzessiver Nutzung handelt, vergisst er des öfteren hinzuzufügen. Es ist eben alles eine Sache des Maßhaltens – und dafür sollten in der Tat Eltern sorgen, wenn es der Nachwuchs selbst nicht kann.

Kein Mitgefühl mehr?

Nächste Studie: Internetnutzung macht empathielos. Spitzer ist überzeugt, dass die Fähigkeit zum Mitgefühl auf vielerlei Weise im Internet auf der Strecke bleibt und führte mehrere drastische Beispiele an (Handy-Knipser bei einem schweren Unfall, ein zusammengebrochener Rentner, dem keiner half, ein Dauerzocker, der tot vor seiner Konsole lag, während andere weiterspielten).

Wer jetzt glaubt, früher war alles besser, muss nur 75 Jahre zurückgehen. Oder Daniel Defoes „Die Pest zu London“ lesen. Beispiele für absolute Gefühllosigkeit gibt es in der Menschheitsgeschichte zuhauf.

Was also bleibt noch von Spitzers Feldzug zurück ins Analoge? Dass das Gehirn ständig neuronale Verbindungen ausbildet, wenn man es intensiv nutzt – wie er am Beispiel Sprachen lernen betont – ist beileibe keine neue Erkenntnis. Sein Vergleich des menschlichen Gehirns mit einer elektronischen Festplatte („die ist irgendwann voll, das Gehirn nicht“) kommt dann doch recht unscharf daher.

Was dem doppelt promovierten Professors beim Durchblättern des „Science“-Magazin entgangen zu sein scheint: Laut einer Studie der University of California erleichtert das digitale Abspeichern von Daten, die nicht von Belang sind und die man sich sonst merken müsste, das Lernen neuer Informationen immens.

Digitale Ablenkung

 

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