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Reportage: Ein Tag in Hamburgs Gefahrenzone

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Tagelang herrschte Chaos in Hamburg.
Foto: dts Nachrichtenagentur

Eine Live-Reportage von Larissa Seifert

Hamburg – Es war das erste Januarwochenende, als Hamburgs Polizei sich vermeintlich nicht mehr zu helfen wusste und eine offizielle Gefahrenzone ausrief.

Alle Menschen, die sich zwischen Altona, St.Pauli und Sternschanze bewegten, Gebiete die das Herz der Innenstadt bilden, konnten ab sofort und ohne konkreten Verdacht einer Personenkontrolle unterzogen werden.

Vorausgegangen war eine Demonstration am 21. Dezember gegen Gentrifizierung und für den Erhalt der roten Flora, einem seit 35 Jahren bestehenden linksautonomen Kulturzentrum. Diese Demonstration sollte als eine der gewalttätigsten in die Geschichte der Stadt Hamburg eingehen.

Was war geschehen?

Rückblick: Zur Demonstration wurden an die 5.000 Menschen erwartet, es kamen etwa 10.000. Die Spitze des Demonstrationszuges bildete ein schwarzer Block aus vermummten Autonomen, die den Polizisten direkt gegenüberstanden. In den mittleren und hinteren Teilen befand sich ein bunter Mix aus Menschen.

Bewohner der Esso-Häuser, den vom Abriss bedrohten Gebäudekomplexen auf der Reeperbahn unweit der bekannten Hamburger Davidwache, waren erschienen, sowie zahlreiche Studenten und Anwohner, auch Familien mit Kindern.

Die Demonstrierenden sollten auf dem Hamburger Schulterblatt nahe der roten Flora starten, doch dazu kam es nicht. Die Polizei stoppte die Demonstration noch bevor sie begann. Chaos brach aus, Wasserwerfer wurden eingesetzt, es gab erste Verletze.

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Vermummte Autonome.

Über alles was weiter geschah gehen die Berichte auseinander, als sicher gilt nur: Die Situation eskalierte. Hamburg erlebte die schwersten Ausschreitungen seit Jahren. Die Polizei meldete 169 verletze Beamte. Linke Organisationen sprechen von über 400 Verletzen auf Seiten der Demonstranten, es wurden jedoch keine Zahlenangaben wirklich verifiziert.

Auch während der darauffolgenden Tage blieb die Situation weiter angespannt. Am vierten Januar gab die Polizei Hamburg einen Angriff durch Linksautonome auf Beamte der Davidwache bekannt, die Richtigkeit der Angaben zum Tathergang gilt mittlerweile allerdings als umstritten. Augenzeugenberichte widersprachen den Darstellungen der Beamten. Die Polizei begründete das Ausrufen der Gefahrenzone dennoch mit diesem Vorfall, wodurch sich die aufgeheizte Situation noch stärker zuspitze. Die USA gaben eine Reisewarnung für Hamburg heraus.

Ist Hamburg wirklich so gefährlich?

Es ist 16 Uhr, als ich an der S-Bahn Station “Reeperbahn“ aussteige, um das herauszufinden. Die Straßen sind leer, es ist Sonntag und relativ kühl. Nur die übliche Mischung aus Menschen ist zu sehen: Touristen, junge und alte St.Paulianer und das ein oder andere blasse Überbleibsel der letzten Nacht.

Ich bin nicht zum ersten Mal in St.Pauli und bis jetzt ist für mich keine besondere Bedrohung auszumachen. De Stimmung wirkt auf den ersten Blick nicht anders als sonst. Ich setze meinen Weg in Richtung der Esso-Häuser fort . Und dort erwartet mich schon die erste Überraschung.

Der komplette Gebäudekomplex ist großzügig abgesperrt. Düster dreinblickende Sicherheitsleute stehen hinter aufgestellten Eisengittern und Drahtzäunen, die unerwünschte Besucher abhalten sollen. Auf dem Boden liegen Unmengen von weißen Kissendaunen verstreut, die in dieser Szenerie mehr als fremdartig anmuten. Schnell erfahre ich, dass Fotos und Nachfragen sind nicht gestattet sind. Ich werde schroff abgewiesen.

Gefahrenzone  wird zur Touristenattraktion

Nur ein paar Meter weiter treffe ich Olaf (41). Er trägt eine dunkle St.Pauli Mütze, einen schwarzen Schnäuzer und eine Jacke, die schon bessere Tage gesehen hat. Gerade war er dabei, die vorbeistreifenden Touristen nach etwas Geld für sein Abendessen zu fragen. “Schlechter Tag heute“ sagt er , und erzählt mir, dass er nur ein paar Ecken entfernt auf der Straße lebt.

Ich frage ihn, ob er schon von der Polizei kontrolliert worden sei. “Nein, man kennt mich hier. Ich hatte mit den Beamten noch nie Probleme.“ Was er von den Protesten hält? „Nichts,“ antwortet er. “Jeden Abend tauchen hier Leute auf, um zu demonstrieren. Sie haben Klobürsten dabei, die sie in die Luft halten und bewerfen sich manchmal mit Kissen. Das zieht jede Menge Personen an, die gucken wollen, aber ernst genommen fühl´ ich mich da, als Mensch, der in St.Pauli schon groß geworden ist, nicht.“

Fast direkt vor dem roten Backsteingebäude Davidwache steht Werner (59). Ein echtes St.Pauli Urgestein. Sein langer grauen Bart und sein noch längeres graues Haar fallen ihm über den schwarzen Ledermantel. Gerade ist er dabei, eine Zigarette mit seinen Cowboy-Stiefeln auszutreten. Auch er sagt: “Ne, ich fühle mich nicht bedroht. Aber schlimm ist das Theater. Kaum einer nimmt das mehr ernst. Touristen fahren hier grölend mit Bierbikes vorbei und Jungessellenabschiede wollen statt Nutten plötzlich lieber Frauen mit Klobürsten fotografieren.“

Im Eingang eines Sexshops liegt Moritz (27) in Decken eingehüllt. Seine Haare sind feuerrot gefärbt, die Hose zerrissen. Als ich vorbeikomme, wird er gerade von zwei etwa 13-Jährigen Mädchen für ein Schulprojekt interviewt, sein Gesichtsausdruck ist mürrisch.

„Passiert das öfter?“ will ich wissen.“Ja, jetzt seitdem das in Medien so groß ist, schon. Vorher haben sich die Leute ´nen Dreck für uns interessiert“. Ob er schon kontrolliert worden ist? „ Ja klar, oft. Die Polizeiwillkür ist scheiße.“.

Moritz erzählt von einem Erlebnis, als er und seine Freunde aus Schutz vor Kälte ein leerstehendes Haus bezogen und von der Polizei gewaltsam vertrieben wurden. „Grundsätzlich muss man sich schon wehren, aber so wie das abläuft macht das keinen Sinn, das ist nur noch eine Touristenattraktion und die Häuser werden trotzdem abgerissen. Hilft nichts.“

Ich streife noch etwa drei weitere Stunden durch die Gefahrenzone, begegne auch zwei Polizeibeamten. Sie essen Döner. Besonders angespannt wirken sie nicht. Ich werde nicht kontrolliert. Aber vermutlich falle ich als junge, harmlos wirkende Frau auch nicht ins Fahndungsraster.

Ursprüngliche Anliegen gehen unter

Gefährliche Situationen bleiben an diesem Abend aus. Dennoch wird klar, dass abseits von Willkür und Gewalt noch eine ganz andere, schleichendere, aber möglicherweise auch tiefergehende Bedrohung für die Menschen in und um St.Pauli besteht. Ein Fokus, der vermehrt auf Demonstrationsformen, Gefahrenzonen, Kissenschlachten und Klobürsten gelegt wird, führt dazu , dass die Bedürfnisse der eigentlich Betroffenen aus den Augen verloren werden. Die Auslöser des Protests, die für viele Menschen immer noch bitteren Ernst bedeuten, geraten stark aus dem Zentrum der Aufmerksamkeit.

So waren zu der ersten Demonstration im Dezember auch Anwohner der vom Abriss betroffenen Esso-Häuser erschienen. Nur zwei Wochen später mussten sie ihre Wohnungen räumen. Besitzer ebenfalls bedrohter Nachtclubs kamen noch zur Demonstration am 21. Dezember – mittlerweile sind ihre Lokale geschlossen. Sie verlieren mit ihrem Eigentum auch ihre Existenzgrundlage.

Sie alle erhoben ihre Stimmen, doch im Chaos von Wasserwerfern, fliegenden Steinen und Feuerwerkskörpern blieben sie ungehört.

Mittlerweile möchte keiner der Betroffenen mehr mit der Presse sprechen. Sie haben die Hoffnung auf Hilfe aufgegeben.

 

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Rauch von Feuerwerkskörpern nebeln die Beamten ein.
Fotos: pfalz-express.de

 

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