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Holocaust-Gedenktag: Überlebende Henriette Kretz im Landtag – Erinnerung wachhalten bedeutet Verantwortung für Demokratie übernehmen

 

Landtagsprsäident hering, Henriette Kretz, Ministerpräsidentin Dreyer.
Fotos: Landtag Rheinland-Pfalz/Andreas Linsenmann

Mainz – Henriette Kretz war knapp zehn Jahre alt als ihre Eltern vor ihren Augen erschossen wurden, von Nazis im Dritten Reich. Ermordet, weil sie Juden waren. Henriette Kretz war von diesem Tag an auf sich allein gestellt, angefeindet als jüdisches Kind in einer feindlichen Umgebung.

So erreichte der ganz persönliche Terror für die 1934 in der damals polnischen Stadt Stanislawów (heutige Ukraine) geborene Henriette Kretz seinen grausamen Höhepunkt.

Im rheinland-pfälzischen Landtag berichtete die Holocaust-Überlebende am bundesweiten Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar in einer bewegenden Rede über diese Zeit und über ihr Leben danach. Bereits seit 1998 kommen an diesem Tag die Landtagsabgeordneten, Regierungsmitglieder und Ehrengäste zu einer Plenarsitzung zusammen, um an die NS-Opfer zu erinnern.

„Es ist uns ein bewegendes Zeichen der Versöhnung, dass Sie gemeinsam mit uns der Opfer des Nationalsozialismus gedenken“, sagte Landtagspräsident Hendrik Hering an Henriette Kretz gerichtet.

Er dankte ihr für das bewundernswerte Engagement, seit vielen Jahren als Zeitzeugin zur Verfügung zu stehen und insbesondere mit jungen Menschen zu sprechen. Auch am Sonntag ließ sie es sich nicht nehmen, mit Studenten der Uni Mainz und Schülern des Carl-Bosch-Gymnasiums in Ludwigshafen zu sprechen. Die Schüler begleiteten die Veranstaltung mit ihrem Kammerorchester musikalisch.

„Vergleiche und Verharmlosen rühren an Grundfesten der Demokratie“

Der Landtagspräsident unterstrich nachdrücklich, dass die Menschheitsverbrechen der NS-Diktatur in ihrer Brutalität und Menschenverachtung unvergleichbar seien. „Um sie auch nur annähernd zu fassen, verwenden wir mit Bedacht das Wort ´Zivilisationsbruch´. Wer diesen Zivilisationsbruch in irgendeiner Weise leugne, klein rede und instrumentalisier, verhöhn die Opfer und rühr an den Grundfesten der Demokratie, so Hering. Das dürfe niemand akzeptieren.

Hering rief dazu auf, an möglichst vielen unterschiedlichen Orten die Erinnerung wach zu halten und zugleich Verantwortung für ein friedliches Miteinander und damit für die Demokratie zu übernehmen. „Denn die Werte unserer Demokratie fallen nicht vom Himmel. Sie müssen immer wieder neu erlernt werden“.

Das Wissen um die Vergangenheit sei daher auch eine unumstößliche Verpflichtung für jeden Demokraten, seine Stimme gegen jegliche Ansätze und Formen und Ausgrenzung, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit zu erheben und danach zu handeln. „Das sind wir den Opfern schuldig, an Tagen wie heute und an 364 anderen Tagen im Jahr“.

Als „Untermenschen“ ausgegrenzt

Umrahmt von Bildern ihrer Familie schilderte Henriette Kretz anschließend in berührenden Worten, wie ein Kind es empfindet, wenn Hass, Vorurteile, Ausgrenzung und Bedrohung das tägliche Leben prägen.

Sie gehöre zu den Völkern, die man damals als „Untermenschen“ bezeichnet habe. Deshalb habe man ihr als Kind das Recht zu Leben verweigert. Sie betätige sich heute als Zeitzeugin, damit die Millionen unschuldiger Opfer nicht umsonst gestorben seien und um mit ihren Warnungen etwas Positives zu erreichen, sagte Henriette Kretz.

Durch die Erzählung einer einzelnen Familiengeschichte sollen Menschen die Verantwortung jedes Einzelnen erkennen. Die Elemente, die einen Völkermord ermöglichten, seien noch immer da. Hass, Ausgrenzung, Vorurteile, religiöser oder politischer Fanatismus, Hungersnöte, der enorme Unterschied zwischen armen und reichen Menschen, das alles sei ideales Futter für diktatorische Regime.

Durch ihre Erfahrung wisse sie, wie leicht es sei, eine Menschenmenge aufzuhetzen. Aber sie wisse auch, dass es selbst in den dunkelsten Zeiten einer blutigen Diktatur, gestern wie heute, Menschen gab und gibt, die sich der Menschenverachtung widersetzten und Empathie zeigten. Und sie sei voller Hoffnung, dass junge Menschen überzeugt werden können, durch Erziehung und durch wahre Fakten den richtigen, den menschenwürdigen Weg zu wählen.

Dreyer: Hass und Hetz dürfen Gesellschaft nicht vergiften

Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD) dankte Henriette Kretz dafür, dass sie als Zeitzeugin am Holocaust-Gedenktag all denen eine Stimme gibt, die sie selbst nicht mehr erheben können. „Die Stimme derer, die von den Menschheitsverbrechen der Nationalsozialisten Zeugnis ablegen, ist durch kein noch so gut geschriebenes Geschichtsbuch zu ersetzen. Sie lenken den Blick auf das individuelle Schicksal, auf die Gedanken, Ängste und Hoffnungen einer Person.“ Es sei von höchster Bedeutung, diese Zeugnisse für zukünftige Generationen zu bewahren.

Die Erinnerungskultur habe in Deutschland ein festes Fundament: Die klare Entscheidung und den entschiedenen Willen, die Ermordeten und das Leid der Opfer des Nationalsozialismus niemals zu vergessen und alles zu tun, damit „Hass und Hetze unsere Gesellschaft nicht vergiften und unser Land zerstören. Erinnerung habe zweifelsfrei immer eine politische Dimension“, sagte die Ministerpräsidentin.

Doch Erinnerungskultur sei kein Imperativ „von oben“. Entscheidend sei die Verankerung in der Gesellschaft. Dreyer sagte, sie freue sich deshalb über die vielen Initiativen zum 27. Januar in Rheinland-Pfalz und die zahlreichen Möglichkeiten, zu gedenken. Gedenkkultur fordere darüber hinaus Zivilcourage, auf der Straße und im Netz. „Jeder und jede trägt Verantwortung dafür, dass menschenfeindliches Gedankengut keinen Nährboden findet“ appellierte sie.

Hintergrund Henriette Kretz

Die Holocaust-Überlebende Henriette Kretz wurde 1934 in der damals polnischen Stadt Stanislawów (heutige Ukraine) geboren. Nach dem deutschen Überfall auf Polen im Herbst 1939 floh die jüdische Familie vor den heranrückenden Deutschen. Henriette Kretz kam mit ihren Eltern zunächst nach Lemberg und bald darauf ins benachbarte Sambor.

1941 holten der Krieg und die Deutschen die Familie auch dort ein. Die Familie wurde aus ihrer Wohnung vertrieben und musste in einen jüdischen Stadtbezirk umsiedeln, in welchem kurze Zeit darauf ein Ghetto eingerichtet wurde. Immer wieder war die Familie verschiedenen Gefahren ausgesetzt und musste sich verstecken.

Nach der Ermordung ihrer Eltern fand Henriette Kretz ein Versteck in einem Nonnenkloster und überlebte den NS-Terror. Henriette Kretz kam nach dem Krieg auf Umwegen nach Antwerpen, wo sie einen Onkel wiederfand. Anschließend verbrachte sie einige Jahre in Israel und kehrte schließlich wieder nach Antwerpen zurück. Ihre Lebenserinnerungen sind auch in Buchform erschienen unter dem Titel „Willst du meine Mutter sein? Eine Kindheit im Schatten der Schoah.“

Hintergrund „Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus“

Seit über zwei Jahrzehnten erinnert der rheinland-pfälzische Landtag am 27. Januar an die Opfer des Nationalsozialismus. Die erste Sondersitzung des Landtags fand 1998 in der damals neu eingerichteten „Gedenkstätte ehemaliges KZ Osthofen“ statt. Damit gehört der Landtag Rheinland-Pfalz zu den ersten Landesparlamenten in Deutschland, die die Anregung des damaligen Bundespräsidenten Roman Herzog von 1996 aufgriffen und den Tag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz als Gedenktag begehen.

Jedes Jahr stellt der Landtag ein anderes Thema in den Mittelpunkt seines Erinnerns und Gedenkens. In diesem Jahr erinnert er an die zunehmende Verfolgung und Entrechtung der Juden in Deutschland und Europa nach den Novemberpogromen vor 80 Jahren und dem Beginn des Zweiten Weltkriegs am 1. September 1939. Im vergangenen Jahr stand die Erinnerung an die Opfer der NS-Justiz im Mittelpunkt. (rlp/red)

 

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