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Grünen-Bundesvorsitzender Habeck bei „WIR sind Kandel“: „Gemeinsam zum Ziel“

20. Juli 2018 | Kategorie: Kreis Germersheim, Kreis Südliche Weinstraße, Landau, Politik regional, Regional

V.li.: Bernhard Braun (Grünen-Fraktionschef im Landtag RLP), Robert Habeck (Bundesvorsitzender Grüne), Jutta Wegmann (Kreisbeigeordnete), Ursula Schmitt-Wagner (Günen-Ortsverband Kandel), Tobias Lindner, Grüner Bundestagsabgeordneter Südpfalz und Jutta Paulus, Landesvorsitzende der rheinland-pfälzischen Grünen.
Fotos und Video: Pfalz-Express/Licht

Kandel – Der Bundesvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen, Robert Habeck, hat auf Einladung des Bürgerbündnisses „Wir sind Kandel“ auf seiner Sommerreise in Kandel Station gemacht. 

Habeck wollte sich über die Situation in der Stadt informieren, in der seit dem Mord an der 15-jährigen Mia durch ihren mutmaßlich afghanischen Exfreund regelmäßig Demonstrationen stattfinden.

Und Informationen bekam er zur Genüge: Die rund 70 Zuhörer im Kultursaal der Stadthalle schütten dem Politiker ihr Herz aus.

 

„Rechte Invasion“

Zuvor gab Jutta Wegman, Grünen-Fraktionssprecherin im Stadtrat und Kreisbeigeordnete, einen kurzen Überblick über die Entstehungsgeschichte des Bündnisses. „Wir wollen mit allen Kräften gegen die rechte Invasion in Kandel kämpfen“, sagte Wegman. In der Gegenbewegung gebe Dynamik, aber auch Spannungen, auf jeden Fall aber viel Solidarität.

Habeck stellt Fragen, hört zu, leistete Beistand, berichtete von eigenen Erfahrungen mit Demonstrationen und prangerte auch eine Verrohung der Sprache in der Asyldebatte an. Der Politiker fungierte als Moderator, ging mit dem Mikrofon mal hierhin, mal dorthin.

Viel Redebedarf

Die Beiträge waren vielfältig. Man sprach zu Beginn über Angriffe im Netz und Bedrohungen gegen die beiden Bürgermeister Poß und Tielebörger (beide SPD) und gegen die Kandeler Flüchtlingshelfer.

Auch Spannungen innerhalb der Kandeler Bevölkerung wurden auf Nachfrage Habecks thematisiert. „Wenn Ihr nicht demonstrieren würdet, wären die Rechten schon lange weg“, sei beispielsweise ein Vorwurf, den Teilnehmer von Kundgebungen häufig zu hören bekämen, schilderte eine Frau. Einig waren sich trotzdem alle, dass man den Migrationsgegnern nicht das Feld überlassen will.

„Antifa-Hysterie“

Kritik gab es am Stadtrat, der sich doch „sehr zurückhält und mit Abwesenheit glänzt“, sagte eine Frau. Besonders die CDU beteilige sich nicht.

Außerdem sei eine regelrechte „Antifa-Hysterie“ im Gange. Diese abzubauen, sei mühselig. Dabei hätten die hiesigen antifaschistischen Gruppen nichts gemein mit einem schwarzen Block wie beispielweise auf dem G20-Gipfel in Hamburg. Dass der Stadtrat sich von der Antifa distanziert hat, können viele nicht verstehen.

Neiddebatte

Ein anderer Hörer meinte, der Rechtsruck in Deutschland und in anderen europäischen Ländern sei nicht zu sehr einem Rassismus geschuldet, sondern sei eher eine Neiddebatte. Da gelte es, die Sorgen der Menschen vor Existenzängsten, Arbeitslosigkeit etc. ernstzunehmen. Populisten würden für die Sorgen der Menschen Ausländer als Sündenböcke benutzen, wie seinerzeit die Nationalsozialisten die Juden.

Ein weiterer Zuhörer forderte zu mehr Dialog auf. Es seien bei weitem nicht alles „Nazis“, die auf den Demonstrationen mitmarschierten. Diese Leute müssten mit Argumenten für die Demokratie zurück gewonnen werden und nicht mit Ausgrenzung, in dem man sie zu „Nazis“ abstempele.

Sicherheitsgefühl ist gut

„Hat das Sicherheitsgefühl der Bürger in der Bienwaldstadt gelitten? Was haben die Ereignisse in Kandel mit ihnen gemacht?“, fragte Habeck in die Runde. Die Antworten waren einhellig: Nein, das Sicherheitsgefühl sei nach wie vor gut, man müsse in Kandel keine Angst haben, auf die Straße zu gehen. „Ich begegne in der Dunkelheit gerne 20 Flüchtlingen, aber keinen zwei Rechten“, sagte eine Frau.

Kulturelle Sozialisation

Robert Habeck

Habeck scheute sich nicht, auch einen kritischen Punkt anzusprechen: Die kulturelle Sozialisation in den Herkunftsländern der Flüchtlinge, in denen Frauenrechte oder Toleranz gegen Homosexuelle oder andere Minderheiten nicht sehr ausgeprägt sei, dafür aber häufig der Antisemitismus. Das wollten viele nicht hören und lehnten einen Bezug zu kulturellen Hintergründen ab. Der Mord an Mia sei eine Beziehungstat gewesen und fuße nicht auf einer anderen Kultur, waren sich etliche Diskussionsteilnehmer sicher.

In Kandel sei alles noch friedlich, sagte ein anderer, verwies aber darauf, dass es in größeren Städten oftmals nicht mehr so sei. Trotzdem mache ihn, selbst Flüchtlingsbetreuer, die Flüchtlingshetze wütend.

Kein Recht auf eigene Fakten

Wieder ein anderer Teinehmer wies auf die „ideologischen Hintergründe der rechten Demonstrationen“ hin – diese müsse man beleuchten. Das „Frauenbündnis Kandel“ mit Initiator Marco Kurz beispielsweise betrachte wohl die Demonstrationen als Geschäftsmodell, die AFD-Landtagsabgeordnete Christina Baum („Kandel ist überall“) indes habe davon gesprochen, dass die Grünen einen „schleichenden Genozid“ wollten. Das sei völliger Blödsinn, aber eben das Vorgehen von Populisten. „Da wird erst einmal die Presse runtergemacht – Lügenpresse – und dann geht es weiter. Jeder hat sein Recht auf eine eigene Meinung – aber nicht auf eigene Fakten“, so der Redner.

Mehr Mittel für Integration gewünscht

Dass man dafür kämpfe, mehr Mittel für die Integration frei zu machen, versicherten Bernhard Braun, der Fraktionschef der Grünen im Landtag, und Tobias Lindner, grüner Bundestagsabgeordneter für die Südpfalz.

Die Politik bekam noch weitere Vorschläge mit auf den Weg. Gefordert wurde eine Art Express-Arbeitsgenehmigung für Flüchtlinge. „Früher kamen auch ausländische Arbeitnehmer zu uns und haben gearbeitet, obwohl sie kein Deutsch konnten“, sagte eine Mitinitiatorin der Kandeler Flüchtlingshilfe. Die Asylbewerber wollten unbedingt arbeiten.. „Neben einem Einkommen gibt ihnen Arbeit auch die Würde zurück.“

Kommunalpolitiker sollen „Herz, Eier und Hirn“ beweisen

Die Rede kam nochmals auf die Antifa. Sie wünsche sich von den hiesigen Kommunalpolitikern endlich „Herz, Eier und Hirn“, sagte eine SPD-Vertreterin. Dass man von Seiten der Stadt Antifa-Fahnen abhängen lasse, mache sie unheimlich wütend.

Eine Zuhörerin machte auf das „Bündnis Kandel gegen Rechts“ aufmerksam. Tatsächlich gibt es noch weitere Gruppen, die sich alle irgendwie beteiligen, aber oft nicht gemeinsam agieren. „Das muss aufhören“, so ein junger Mann. Es bringe nichts, wenn 100 Personen am Saubrunnen stünden und weitere 100 auf dem Marktplatz. Kandel sei mittlerweile ein rechter Hotspot geworden, wo sich rechtsextreme Typen wie Martin Sellner oder Ignaz Bearth herumgetrieben.

Häkeln oder demonstrieren: Protest hat viele Gesichter

Auch die unterschiedlichen Formen der Proteste sorgten für einen kurzen Diskurs. Bunte Häkel- oder Strickbändchen an den Bäumen sei nicht wirklich ein Protest, sagte einer. Dem widersprach eine Frau, die appellierte, jegliche Ausdrucksweise zum Protest habe ihre Berechtigung. Nicht jeder sei für die Straße geschaffen: „Wir sollten uns alle gegenseitig akzeptieren und nicht belächeln.“

Das bestätigte auch Habeck. Das gemeinsame Ziel, rechte Demonstranten aus Kandel zu vertreiben und der Demokratie Vorschub zu leisten, solle immer im Fokus des Handelns stehen.

Dann machte er sich auf in den Zug nach Flensburg, im Gepäck Obstsäfte von regionalen Streuwiesen als Dankeschön. (cli)

 

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