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Europaabgeordnete Jutta Steinruck im Interview: Was kann die EU – was nicht?

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Treffen mit deutschen und französischen Freunden in Scheibenhardt.
Fotos: pfalz-express.de/Licht

Scheibenhardt – Jutta Steinruck, rheinland-pfälzische SPD-Europa-Abgeordnete, kam unlängst in Scheibenhardt zu einer kleinen Europa-Feier mit Parteigenossen von diesseits und jenseits der Grenze zusammen.

Ein symbolträchtiger Ort, wie geschaffen für eine derartige Zusammenkunft: Scheibenhardt in Deutschland, Scheibenhard (ohne t) in Frankreich. Die ehemalige Grenze mitten im Ort ist die Lauterbrücke, wo noch heute die alten Schlagbäume und Grenzhäuschen stehen. Gerade in dieser Region sind zahlreiche grenzüberschreitende Projekte entstanden, die Zusammenarbeit ist intensiv.

Karl-Heinz Benz von der SPD Scheibenhardt begrüßte die Anwesenden sowohl in deutscher Sprache als auch in fließendem Französisch. Mit dabei waren unter anderem Mitglieder der AG 60 plus, der Scheibenharder Bürgermeister Francis Joerger und der Hagenbacher Verbandsgemeindebürgermeister Reinhard Scherrer, samt und sonders alle überzeugte Europäer.

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Pfalz-Express traf sich mit Jutta Steinruck dort zum Interview. Wir wollten wissen, woher die Europa-Verdrossenheit kommt, was Europa gut gemacht hat, wo noch Handlungsbedarf besteht.

Frau Steinruck, Sie haben die erste Amtsperiode hinter sich. Welches Fazit ziehen Sie aus den fünf Jahren?

[3]Die ersten zwei Jahre waren gewissermaßen Lehrjahre. Ich bin als deutsche Arbeitsmarkt-und Beschäftigung-Expertin nach Brüssel gekommen, musste aber zuerst einmal meinen Wissenshorizont über die Arbeit in der EU erweitern und meine Netzwerke bilden.

Die politische Arbeit ist doch ganz anders, als man es vom Landtag oder Stadtrat kennt, sie besteht aus viel mehr Detailarbeit.

Inwiefern?

Die Art der politischen Arbeit ist sehr sachorientiert – eigentlich das Beste, was einem Politiker passieren kann: Weniger parteipolitische Blöcke und Fraktionen, sondern ein gemeinsames Auftreten. Wenn wir mit den Mitgliedstaaten verhandeln, können wir umso besser argumentieren, je geschlossener wir sind. Wir sind deshalb immer bestrebt, gemeinsame Positionen zu finden, um stärker auftreten zu können – auch gegenüber dem Rat.

Als Ergebnisse der europäischen Politik nehmen die meisten Bürger nur die Reglementierungen aus Brüssel wahr – wie kommt es zu den manchmal kurios anmutenden Vorschriften?

Das Europa-Parlament hat sich ja sukzessive mit den Jahren verändert – vom „Zuhör-Parlament“ zum Mitgesetzgeber. Aber wir sind nicht die, die die Gesetzte initiieren. Wir sind nicht diejenigen, die morgens aufwachen und uns überlegen: Wie biegen wir die Gurken gerade?

Diese Initiativen kommen aus den Mitgliedssaaten, werden an die Kommission herangetragen und die Kommission wandelt die Eingaben in Gesetzesvorlagen um. Dann erst erreicht uns das im Parlament. Wenn es zu einer Abstimmung kommt, ist es besser, unsere Handschrift mit einzubringen, als sich gänzlich herauszuhalten. Ansonsten lassen Kommissionsbeamte den Entwurf durchlaufen. Deshalb werden wir mit diesen Dingen immer in Verbindung gebracht.

Was wir brauche ist eine europäische Verfassung, die klar die Aufgaben und Kompetenzen regelt, so wie wir es in Deutschland auch haben, mit einem föderalen System. Das muss natürlich von allen Mitgliedsstaaten so gewünscht sein, es muss wachsen. Im Moment kämpfen wir ja mehr gegen die, die Europa wieder kaputt machen wollen.

Wir brauchen nicht mehr Europa, sondern ein anderes Europa, das sich mit den großen, unbedingt zu lösenden Problemen beschäftigt. Dafür müssten die Mitgliedstaaten vielleicht die ein oder andere Kompetenz abgeben. Andererseits gibt es viele Dinge, wo sich die europäische Ebene nicht einmischen sollte.

Zum Beispiel? Was liegt mehr in Bereich der Länder, was sollte mehr auf EU-Ebene getroffen werden?

Alles, was unmittelbar in die Lebenswirklichkeit vor Ort eingreift, sollte Sache des jeweiligen Landes ein, zum Beispiel die Privatisierung des Wassers oder der öffentlichen Daseinsfürsorge. So etwas muss vor Ort entschieden werden. Wir können in solchen Dingen Europa nicht gleich machen, dafür haben die Länder zu unterschiedliche Strukturen und Kulturen.

Manche Dinge dürfen zudem nicht dem Markt ausgesetzt werden. Die öffentliche Daseinsfürsorge ist eine Bereich, in dem man nicht nur den Profit im Kopf haben darf. Auch gewachsene ehrenamtliche Strukturen dürfen durch Europa nicht angegriffen werden.

Auf europäischer Ebene müssen Dinge geregelt werden wie die Finanzmarkt-Zockereien, das Trockenlegen von Steueroasen oder eine Angleichung der unterschiedliche Steuersysteme. Wenn ein Unternehmen umzieht, um Steuern zu sparen und Arbeitslose zurücklässt, quasi ein Unterbietungswettbewerb zwischen den europäischen Mitgliedsländern stattfindet, müssen wir eine einheitliche Regelung finden.

Positiv sind auch gemeinsame Klimaziele. Gemeinsame Energiepolitik. Eine koordinierte Wirtschafts- und Agrarpolitik. Wir in Deutschland können uns nicht alleine ernähren. Es gibt in Europa unterschiedliche Klimazonen, die unterschiedliche Produkte erzeugen, da macht eine Zusammenarbeit Sinn – auch um Lebensmittelspekulanten keinen Raum zu geben.

Wo sehen Sie Möglichkeiten der EU, gegen die hohe Arbeitslosigkeit in einigen Mitgliedsländern vorzugehen?

Wenn wir junge Menschen jetzt qualifizieren, so, dass sie Arbeitsplätze finden, ist es billiger, als wenn ein junger Mensch nie den Einstieg in den Arbeitsmarkt findet und sein Leben lang auf Hilfe der Allgemeinheit angewiesen ist. Manchmal ist es besser, nicht zu sparen, sondern jetzt zu investieren, weil es langfristig billiger ist. Die Staaten müssen dazu Geld für Investitionsprogramme in die Hand nehmen. Ich wünsche mir bei der ganzen Spardiskussion einen Blick, der über den nächsten Wahltag hinausgeht.

Würden wir jetzt 21 Milliarden in junge Menschen investieren, um sie überhaupt in den Arbeitsmarkt zu bringen, würden wir mittelfristig 120 Milliarden Euro für die Gesellschaft in Europa sparen. Wenn wir die Weichen richtig stellen, zahlt sich das langfristig aus.

Beispiel Spanien: Dort gibt es viele bestausgebildete junge Arbeitslose. Wie kann die EU da konkret helfen?

Wir können nicht unmittelbar eingreifen. Aber wir können Geld für Investitionen bereit stellen oder Anschubfinanzierungen gewähren, zum Beispiel für Menschen, die sich selbstständig machen wollen. Gute Geschäftsideen müssen unterstützt werden.

Kann man sich dafür direkt an die EU wenden?

Nein, das geht über nationale Banken. Auch diese müssen wir dazu zwingen. Sie bekommen billiges Geld von der europäischen Zentralbank. Dieses Geld sollten die Banken günstig weitergeben – und nicht für teure Zinsen, um gleich selbst wieder viel Geld zu verdienen.

Das Programm „Europäische Jugendgarantie“ haben die Sozialdemokraten schon vor acht Jahren auf die Tagesordnung gebracht. Jetzt erst sind die Mitgliedssaaten das Thema angegangen – wir mussten viele Jahre kämpfen, dass ein europäischen Jugendprogramm auf den Weg kommt.

Man hat innerhalb weniger Wochen 800 Milliarden auf die Beine gestellt, um die Banken zu retten – nun hat man innerhalb von Jahren gerade mal 6 Milliarden für die europäische Jugend aufgebracht. Und die Jugend ist weitaus systemrelevanter als Banken. Da hätte ich mir dasselbe Engagement gewünscht.

Wie sieht das europäische Jugendprogramm aus?

Die Strukturfonds, die wir jetzt haben, stellen den Ländern Geld zu Verfügung – speziell, um junge Menschen in Arbeit zu bringen bzw. sie zu qualifizieren. Die Umsetzung liegt dann in den jeweiligen Mitgliedssaaten.

Gibt es eine Kontrolle für die Verwendung der Gelder?

Ja, das macht die Kommission. Alle Mitgliedstaaten müssen genau dokumentieren, wie sie die Gelder verwenden und einsetzen wollen.

Bereich grenzüberschreitende Arbeitsmigration – ein großes Thema Ihrer politischen Arbeit. Haben Sie ein Beispiel für ein gutes Projekt?

Arbeitnehmerberatung und Arbeitgeberberatung bei grenzüberschreitender Arbeit – dieses Programm wollte die Kommission einstellen. Ich habe als Berichterstatterin dafür gekämpft, dass die Beratung in den Grenzregionen belassen und die Finanzierung gesichert wird.

In diesem Bereich gibt es noch sehr viele Probleme und damit Beratungsbedarf. Wir müssen die Menschen schützen, indem wir ihnen die beste Beratung geben. Natürlich ist es die Absicht der Kommission, die Mobilität zu erhöhen, um die Arbeitslosigkeit zu senken. Aber Mobilität braucht eben Begleitung.

Kleine und mittelständische Unternehmen stärken – wie funktioniert das auf europäischer Ebene?

Mittelständler sind das Rückgrat der Gesellschaft, deshalb müssen sie unterstützt werden mit allem, was die Politik hergibt. Das beginnt bei Geldern für Forschung und Technologie bis zur Hilfe für Unternehmensgründungen und dem Abbau von bürokratischen Hürden. Wir haben Fonds zur Regionalentwicklung, mit denen auch Unternehmenserweiterungen oder -umbauten gefördert werden.

Ruft Rheinland-Pfalz denn alle Mittel aus Brüssel ab?

Ich kann nur für den Sozialfonds sprechen: Da schöpft die Landesregierung Rheinland-Pfalz den gesamten Topf aus und gibt mehr Mittel dazu, als sie verpflichtet wäre. Es besteht für die europäischen Fonds immer ein Teil Eigenfinanzierung, das sind in der Regel 25 Prozent. Rheinland-Pfalz gibt von sich aus 50 Prozent dazu.

Bei manch anderen Fonds müssen jedoch die Kommunen auch ihren finanziellen Anteil stemmen – dazu sind sie nicht immer in der Lage.

Vielen Dank für das Gespräch.

 

Information: Das hat Europa im Alltag verändert

– Einführung der europaweiten Notrufnummer 112
– Ablehnung des Kommissionsvorschlags einer jährlichen Kfz-TÜV-Prüfung
– sinkende Preise für mobile Internetnutzung und grenzüberschreitendes Telefonieren (Roaming), ab 2016 Abschaffung
– einheitliche Handyladegeräte in der EU ab 2017
– Stärkung der Rechte von Reisenden, z.B. bei Bahnverspätungen oder Flugausfällen
– 14-tägiges Widerrufsrecht beim grenzüberschreitenden Online-Shopping
– strenge Standards und Kontrolle von Medizinprodukten, wie zum Beispiel vereinheitlichte Beipackzettel
– strengere Regeln für Energieverbrauch, z.B. die Einführung der Energieklassen A+++, A++
– Regelungen zur Verhinderung von Lebensmittelbetrug, unter anderem Mindestsicherheitsstandards, EU-Biosiegel, verbindliche Mengen- und Preisangaben pro 100g auf Verpackungen, um bessere Vergleichbarkeit herzustellen

 

 

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Ehemaliger Grenzübergang

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