Samstag, 20. April 2024

Schule kann und muss besser werden: Interview mit Landauer Reformpädagoge Dr. Heinz Klippert

15. März 2018 | Kategorie: Landau, Regional

Das Thema „Lernen“ hat Dr. Heinz Klippert vielfältig weiter getragen.
Foto: Schwarz

Landau. Der Landauer Reformpädagoge Dr. Heinz Klippert, vollendet am 19. März sein 70. Lebensjahr.

Mit seinen konkreten Anregungen zum Aufbau einer neuen Lernkultur hat er in Deutschland viel bewegt, nicht nur durch seine Tätigkeit beim EFWI, dem Lehrerfortbildungsinstitut der ev. Kirchen in Landau, sondern auch durch seine mehr als 400 000 verkauften Bücher im Beltz-Verlag, seine vielen Vorträge in Deutschland und im Ausland, z.B. in deutschen Auslandsschulen weltweit, auch durch seine Beratungsarbeiten und Unterrichtsentwicklungs-Projekte in Berlin, NRW, Hessen, Niedersachsen, Saarland und neuerdings Baden-Württemberg.

Paul Schwarz hat Heinz Klippert häufig auf seinem Reformweg begleitet und durch seine neun Filme über Klipperts Programm viel zur Verbreitung einer neuen Lernkultur in deutschen Schulen beigetragen.

Klippert im Gespräch mit Paul Schwarz.
Foto: red

Paul Schwarz hat mit Heinz Klippert ein Interview für den Pfalz-Express geführt.

Sie sind Bestseller-Autor und höchst erfolgreicher Unterrichtsreformer. Was hat Sie seinerzeit als Gymnasiallehrer bewogen, die Unterrichtsentwicklung zum Kern Ihrer Arbeit zu machen?

Bereits Anfang der 7oer Jahre als Student der Wirtschaftswissenschaften mit bildungsökonomischen Fragen ging es mir darum, wie man der drohenden deutschen Bildungskatastrophe entgegenwirken kann.

Mehr Lehrer, mehr Chancengerechtigkeit, mehr Durchlässigkeit und zeitgemäßere „Schlüsselqualifikationen“. Das waren und sind zentrale Optionen meiner Arbeit.

In meiner Diplomarbeit bin ich dann dem Zusammenhang zwischen Wirtschaftswachstum und Bildungsarbeit näher nachgegangen und habe u.a. die Notwendigkeit aktivierender Lehr- und Lernverfahren entdeckt.

In einer hessischen integrierten Gesamtschule konnte ich dann neue Unterrichtsmethoden ausprobieren: Gruppenarbeit, Planspiele, Rollenspiele, Hearings, Debatten, Projektarbeit, Entscheidungsspiele, Betriebspraktika und vieles andere mehr.

Das Ernüchternde dabei war nur, dass sich viele Schüler mit der geforderten Selbstständigkeit und Kooperationsarbeit erstaunlich schwer taten. Diese Erfahrung hat mich in der Folgezeit bewogen, die Unterrichtsentwicklung stärker in den Blick zu nehmen, also das Methodenlernen mit Schülern, den handlungsorientierten Unterricht, die Lehrerkooperation und das schulinterne Innovationsmanagement.

Heinz Klippert wird 70.
Foto: Schwarz

Eines der Kernprobleme unserer Tage ist die wachsende Heterogenität in den Klassen: Wie können bzw. sollten Lehrkräfte damit umgehen?

Die aktuellen Zauberworte heißen Individualisierung, Differenzierung, Freiarbeit und lehrerseitige Intensivbetreuung der Kinder.

Die Lehrkräfte sollen Lerntheken aufbauen, unterschiedlichste Materialien und Aufgaben entwickeln und jedem einzelnen Schüler als Berater und Coach zur Seite stehen.

Für mich ist das die programmierte Überforderung. Mein Ansatz ist ein anderer: Ich plädiere seit Jahr und Tagt dafür, die Förderarbeit stärker auf die Schülerqualifizierung zu konzentrieren.

Das heißt: Auf den systematischen Aufbau grundlegender Lern- und Sozialkompetenzen auf Schülerseite sowie einen darauf gestützten integrationsfördernden Arbeitsunterricht in den Fächern. Das ist machbar und lohnend.

Der Grundgedanke dabei ist der: Wenn die Schüler/innen methodisch und sozial fit sind und der Fachunterricht differenzierte Arbeits- und Interaktionsanlässe für den Klassenverband bietet, dann ist selbstreguliertes Arbeiten und Kooperieren nicht länger eine Utopie.

Das bestätigen die von mir betreuten Unterrichtsentwicklungsprojekte in mehreren Bundesländern. Die Schüler/innen helfen, beraten, kontrollieren und erziehen sich wechselseitig, die Lehrkräfte können sich dadurch stärker zurücknehmen und beobachten.

Dieses Miteinander- und Voneinander-Lernen nützt erwiesenermaßen allen: den Schwächeren wie den Stärkeren. Das zeigt sowohl die neuere Lernforschung als auch die jüngste PISA-Studie.

Inklusion, Abschaffung der Förderschulen. Wie realistisch und bildungswirksam ist diese Reforminitiative?

Über die Notwendigkeit verstärkter Inklusionsbemühungen muss sicher nicht länger gestritten werden.

Die Behindertenrechtskonvention der UN zielt auf ein Mehr an Teilhabe und Menschenwürde, aber nicht um jeden Preis. Von daher sind Behutsamkeit und Abwägen angezeigt.

Uneingeschränkt optimistisch bin ich bei der Gruppe der lern- und verhaltensgestörten Kinder – Seh- und Hörbeeinträchtigte eingeschlossen. Ein Großteil dieser Kinder hat erhebliche intellektuelle und sozial-emotionale Reserven und kann bei frühzeitiger Förderung und Integrationsarbeit sehr wohl in der Regelklasse gehalten werden.

Viel schwieriger wird es dagegen bei jenen Kindern, die ausgeprägt geistig behindert sind und deshalb im gängigen Fachunterricht per se nicht mitwirken können.

Sie lediglich im Klassenzimmer sitzen und von speziellen Förderkräften betreuen zu lassen, hat mit ernsthafter Inklusion wenig zu tun. Viele dieser Kinder sind in spezialisierten Förderschulen sehr viel menschenwürdiger aufgehoben als in einer Regelklasse.

Viele Lehrkräfte klagen über wachsende Belastungen im Schul- und Reformalltag. Wie ließe sich Lehrerentlastung erreichen?

Die vorgebrachten Klagen sind in Teilen sehr berechtigt. Viele Reformen waren in der Vergangenheit eher vordergründiger und zeitintensiver Aktionismus.

Da wurden in unzähligen Sitzungen abstrakte Schulprogramme oder Leitbilder entwickelt, aufwändige Arbeitspläne erstellt, schulinterne Evaluationen konzipiert oder vielfältige Pflichtfortbildungen zu den neuen Bildungsplänen oder sonstigen schulpolitischen Weichenstellungen abgesessen.

Ich verstehe gut, dass sich viele Lehrkräfte dadurch unnötig belastet oder auch frustriert fühlen. Was ich allerdings nicht verstehe ist, dass die Lehrkräfte so wenig gegen die unterrichtlichen Belastungen angehen. Hier sehe ich die größten Chancen.

Entlastung durch konsequente Methodenschulung, durch Teamentwicklung in den Klassen, durch verbindliche Regeln und Rituale, durch eingespielte Arbeitsabläufe und Arbeitsroutinen – das alles reduziert den Arbeitsstress für die Lehrkräfte.

Die von mir entwickelten und publizierten Lernspiralen und Trainingsspiralen sichern derartige Entlastungseffekte.

Ein weiterer Entlastungshebel ist die Lehrerkooperation. Das beginnt bei der arbeitsteiligen Unterrichtsvorbereitung im Rahmen schulinterner Workshops und reicht über abgestimmte Lehr-, Lern- und Erziehungsstile auf Klassen- und Schulebene bis hin zu kooperationsfördernden Freistellungs- und Unterstützungsmaßnahmen der Schulleitungen.

Die Lehrerbildung müsste ja eigentlich der Motor der Unterrichtsentwicklung sein. Inwieweit ist das der Fall und was müsste ggf. geändert werden?

Die Lehrerbildung erlebe ich selten als Motor der Unterrichtsentwicklung, Das gilt insbesondere für die Lehrerausbildung an den Hochschulen, Hier ist es nach wie vor Usus, den erziehungs- und fachwissenschaftlichen Überbau des Lehrerberufs zu skizzieren und die praktische Lehrerarbeit eher zu vernachlässigen.

Dieser Abstraktismus der Lehrerbildung wird in der zweiten und dritten Ausbildungsphase zwar deutlich überwunden, aber auch in diesen Phasen kommt der Aufbau unterrichtspraktischer Handlungskompetenzen häufig viel zu kurz.

Zweistündige Seminare und halb- oder eintägige Fortbildungsveranstaltungen erzwingen relativ vordergründige Instruktionen und Aussprachen.

Innovatives praktisches Handwerkszeug der Lehrkräfte wird unter diesen Umständen viel zu wenig eingeübt. Lehrertraining, Simulationsspiele, Workshops, Unterrichtsbesuche, Fallstudien und andere Learning-by-Doing-Angebote fehlen meist.

Kein Wunder also, dass die Unterrichtsentwicklung in den Schulen wenig Schub erfährt. Hier muss die Lehrerbildung dringend umsteuern und bessere Vorleistungen erbringen.

Welche Rolle spielen die digitalen Medien in ihrem Lernkonzept? Sind sie eher Fluch oder eher Segen?

Selbstverständlich gehören die digitalen Medien in die Schule. Der von mir propagierte Arbeitsunterricht braucht nun einmal zeitgemäße Lern- und Arbeitsmittel.

Dazu gehören inzwischen auch Computer, Laptops, Smartphones, Whiteboards, Software und andere elektronische Arbeitsmittel, mit deren Hilfe die Schüler die fällige Informationsbeschaffung und -verarbeitung bewerkstelligen.

Zwar bin ich überzeugt davon, dass der haptische Zugang zu Büchern, Stiften, Plakaten, Schreibheften und anderen klassischen Arbeitsmitteln auch weiterhin von großer Bedeutung sein wird, da diese Art des „Begreifens“ für die meisten Schüler aus entwicklungspsychologischen Gründen unerlässlich ist.

Gleichwohl werden die digitalen Medien den Unterricht zunehmend bereichern. Unsicher bin ich lediglich, ob es uns zeitgleich auch gelingen wird, die Schüler zum nötigen mündigen und kritischen Umgang mit den digitalen Medien zu befähigen.

Denn nicht alles, was Kinder fasziniert, ist deshalb auch schon sinnvoll und bildungsrelevant.

Ihre Pläne für die Zukunft?

Neben den Publikations- und Fortbildungsarbeiten nehme ich mir mittlerweile wesentlich mehr Zeit für die Familie und für das Bereisen fremder Länder.

Ich bin in der Vergangenheit zwar häufiger in deutschen Auslandsschulen auf der ganzen Welt gewesen und habe bei diesen Gelegenheiten auch immer wieder interessante Reisen in den betreffenden Ländern unternommen.

Da eine unserer Töchter in Australien lebt, richtet sich unser Blick seit einigen Jahren stärker auf Australien, Neuseeland und einige asiatische Länder Auch eine Wohnmobil-Tour durch Kanada steht in Kürze an. So gesehen gibt es noch manches zu entdecken.

 

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3 Kommentare auf "Schule kann und muss besser werden: Interview mit Landauer Reformpädagoge Dr. Heinz Klippert"

  1. Steuerzahler sagt:

    Der Überschrift ist umfänglich zuzustimmen! Die Frage wer die Bildungsmisere verursacht hat und durch was sie verursacht wurde, wird jedoch nicht gestellt. Schade! Dann hätte nämlich Herr Dr. Klippert eingestehen müssen, daß Leute wie er maßgeblich daran beteiligt waren. Wir hatten ein hervorragendes dreigliedriges Schulsystem, das im wesentlichen auf dem Humboldtschen Bildungsideal fußte und von klugen Menschen ohne irrlichterne Weltanschauung umgesetzt wurde.
    Es brachte bis in die 70er Jahre hervorragende Wissenschaftler, Ingenieure und Handwerker hervor.
    Dann kamen die 68er in die Lehrer- und Amtszimmer.
    Alles musste verändert werden, auch die Schulen. Alle Menschen sind ja gleich (zumindest die Meisten).

  2. Steuerzahler sagt:

    Teil 2
    Die Pädagogik ist die einzige Disziplin der Experimente am lebenden Schüler erlaubt ist – ein Skandal! Wievielen Schülern hat Herr Klippert in Hessen mit seinen Experimenten „Gruppenarbeit, Planspiele, Rollenspiele etc.“ eine ordentliche Bildung und somit ein auskömmliches Dasein gekostet? Und er ist nicht der Einzige Experimentator.
    Mit der s.g. Früherziehung nimmt man dem Vorschulkind bereits die Zeit zum Spielen und damit die Ausbildung kreativer Fähigkeiten. Die Grundschüler mit Physik und Sexualunterricht zu frustrieren, statt ihnen Lesen, Schreiben und Rechnen – also die Grundvoraussetzungen aller Bildung – zu vermitteln, führt bestimmt nicht zum erhofften Bildungserfolg. Dann verlegt Herr Klippert die Frühkindlichen Rollenspiele halt mal ebnen in die Schule – zum Nachholen!

  3. Steuerzahler sagt:

    Teil 3
    Daß unser Gehirn wie ein Muskel funktioniert der trainiert werden muß, soll er nicht verkümmern, wissen offensichtlich nur diejenigen die Handys und Tablets in Klassenzimmern ablehnen.
    In der Bildung brauchen wir Menschen mit einem gesunden Menschenverstand und der Fähigkeit einem Anderen etwas bei zu bringen, Kinder zu führen, ihnen ein Vorbild zu sein. 2018 kann jeder der das Abitur geschafft hat Lehrer werden, ohne vorherigen Befähigungsnachweis. Die Politik hat es über ihre „Kultusministerien“ und falschen Rahmenbedingungen (Handlungsanweisungen, Lehrpläne etc.) geschafft unser einst vorbildliches Bildungssystem zu ruinieren.