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Neujahrsempfang in Kandel: Sorgen und Optimismus gleichermaßen – ergreifende Rede eines Flüchtlings

8. Januar 2017 | Kategorie: Kreis Germersheim, Politik regional, Regional
Kein Neujahrsempfang ohne Ehrungen. Fotos: Pfalz-Express/Licht. Fotogalerie am Textende

Kein Neujahrsempfang ohne Ehrungen.
Fotos: Pfalz-Express/Licht.
Fotogalerie am Textende

Kandel – „Mit Mut ins neue Jahr – und war das alte schlecht – dann erst recht!“ –  ermunterte Bürgermeister Günther Tielebörger die Bürger beim traditionellen Neujahrsempfang der Stadt.

Viele Bedenken äußerte der Stadtchef zum vergangenen Jahr. Es sei das Jahr der Nationalisten und Populisten gewesen, es gebe Probleme mit der Demokratie und deren Grundwerten. „Demokratie ist kein Selbstprozess, darauf müssen wir besonders die jungen Leute hinweisen“,  sagte Tieleböger.

Es gelte, alles dagegen zu tun, damit „Populisten nicht an Boden gewinnen.“ Bei den Bundestagswahlen im Herbst und auch bei den Wahlen in Frankreich im Frühjar werde sich zeigen, wie weit die rechten Spektren wirklich reichten: „Wir müssen Sorge tragen, dass aus „Mutbürgern“ keine „Wutbürger“ werden. Passen wir auf in diesem Jahr, seien wir kritisch.“

Das Motto des Neujahrsempfangs „Hand in Hand in Europa“ sei derzeit mehr Wunsch als Realität, sagte Tielebörger. Viel Streit gebe es in der EU auf politischer Ebene. Gerade deshalb sei es wichtig, die Freundschaften mit den Städtepartnerschaften aufrecht zu halten.

Auch die Lücke zwischen Arm und Reich klaffe immer weiter auf, ein Rentensatz unter 50 Prozent bezeichnete Tielebörger als unsozial: „Wir brauchen mehr Mut für Gerechtigkeit, echte Solidarität und durchschaubare Politikprozesse.“

Tielebörger beklagte die Situation der Kommunen, die unter der Schuldenbremse des Bundes litten. Zudem sei es fraglich, ob man sich in Zeiten niedrigster Zinsen ein Spardiktat auferlegen lassen solle oder ob Investitionen („in Kandel beispielsweise Breitband“) nicht viel besser seien. Land und Bund hielten sich mit Darlehen zurück, aber: „In Kandel wollen wir auch mehr von der Wurst.“

Finanzstark, aber „am Abgrund“

Kandel sei zwar finanziell stark, mit einer geringen Arbeitslosigkeit und konstanten ansehnlichen Steuereinnahmen, stehe aber andererseits finanziell „am Abgrund“.

Von den Einnahmen würden 80 Prozent wieder in Umlagen abfließen: „Von 10 Millionen bleiben uns nur 2 Millionen“, klagte Tielebörger. Der Anteil der Schulden nehme zu, die pro Kopf Verschuldung betrage für den einzelnen Bürger etwa 2.000 Euro. Da bleibt nur noch Galgenhumor: „Das einzige Vermögen, das wir haben, ist das Durchhaltevermögen.“ Dennoch habe sich die Stadt bestens entwickelt und sei auch für Auswärtige höchst attraktiv.

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Tielebörger erläuterte anstehende Projekte wie der Erwerb und die Belegung des ev. Gemeindezentrums, das Programm „Aktive Stadt“, Baugebiete, Gewerbegebiet Lauterburger Straße oder Rheinstraße. Darüber berichtet der Pfalz-Express in den nächsten Tagen gesondert.

„Viele gucken neidisch nach Kandel“, so der Bürgermeister, „so viel falsch können wir also nicht gemacht habe.“

Flüchtling hält ergreifende Rede

Mucksmäuschenstill wurde es, als ein in Kandel wohnender Flüchtling ans Mikrophon trat.

Der junge Mann macht eine Ausbildung zum Elektronik- und Gebäudetechniker bei der Firma Epos in Wörth. Die Chefin des Betriebs, Nicole Zor, wurde vor einigen Tagen als Landratskandidatin der SPD im Kreis Germersheim vorgestellt.

Die Epos GmbH ist ein sogenannter „sozialer Betrieb“ und wurde von Bundespräsident Joachim Gauck für ihren Einsatz in der Flüchtlingshilfe gewürdigt. Das Unternehmen möchte Zuwanderern durch Integration in den Arbeitsmarkt eine nachhaltige Perspektive für ihr Leben in Deutschland bieten.

Dort ist auch Mustafa unter- und angekommen. Der gebürtige Afghane ist in Iran aufgewachsen, hat dort laut eigener Aussage den Beruf des Elektrikers erlernt. Afghanen hätten in Iran kein gutes Leben, erzählte er beim Neujahrsempfang. Dennoch sei es „ok“ gewesen, bis man ihn nach Syrien habe schicken wollen – in den Kampf gegen den IS.

Vor einem Jahr hat er sich dann nach Deutschland aufgemacht. Sein jüngerer Bruder habe es nicht geschafft und müsse nun in Syrien um sein Leben bangen.

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Vor einigen Tagen hatte Mustafa Geburtstag, ist 24 Jahre alt geworden. Die Kollegen im Betrieb hätten ihm gratuliert, es sei ein besonderer und schöner Tag gewesen – bis er abends zuhause die Post aufgemacht habe: Der Abschiebebescheid war da. Seither ist er tief deprimiert: „In Deutschland ist alles toll, es sind so viele gute Menschen hier. Ich wollte auch ein bisschen Vorbild für andere Flüchtlinge sein und nun muss ich weg. Ich bin furchtbar traurig.“

Er habe viele gute Kontakte mit Deutschen, die Sprache gelernt und arbeite gerne, sagte Mustafa. „Ich bin Afghane, aber doch ein Mensch und kein Tier. Ich bin ganz kaputt.“ Der Stadt Kandel und der Initiative „Kandel aktiv“ danke er von Herzen: „Sie haben so viel für mich getan.“

Im Saal war die Betroffenheit zu spüren. Da häufig von händeringend gesuchten Fachkräften die Rede ist, wäre Mustafa wohl ein geeigneter Kandidat: Fleißig und unbedingt integrationsbereit, alle Papiere vorhanden.

Wie auch immer – von den Pfarrern Arno Dembek (ev. Kirchengemeinde) und Stanislaus Mach (kath. Kirchengemeinde) gab´s den Segen der Kirche und ein ein Wunschgebet für eine friedliche Zukunft. Die Stadtkapelle Kandel sorgte für den guten Ton.

Sportler geehrt

Beigeordnete Monika Schmerbeck ehrte Sportler, Ehrenamtler und einen Top-Schüler.

Darüber wird ebenfalls gesondert berichtet. (cli)

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Ein Kommentar auf "Neujahrsempfang in Kandel: Sorgen und Optimismus gleichermaßen – ergreifende Rede eines Flüchtlings"

  1. GEEEKEE sagt:

    Mit Verlaub halte ich es für eine Geschmacklosigkeit, wenn die Stadt Kandel den Neujahrsempfang durch die Rede eines Afghanen, der nach amtlicher Feststellung eben kein Flüchtling ist, zur Propagandaveranstaltung für eine seit Jahren katastrophalen Einwanderungspolitik umfunktioniert.

    Laut offiziellen Schätzungen werden wir 2017 ca. 500 000 ausreiseplfichtige Migranten in Deutschland haben. Es gibt zahlose Beispiele von ausreisepflichtigen Migranten, die trotz mehrfacher Straffälligkeit über Jahre auf Kosten des deutschen Steuerzahlers in Deutschland verbleiben.

    Warum lässt man nicht Opfer von Migrantenkriminalität beim Neujahrsempfang zu Wort kommen? Beispielsweise die Leute aus Landau, die ein Syrer bereits in der Neujahrsnacht mit einer abgebrochenen Flasche bedroht hat?